Noch immer wird fleißig aufgrund der Pandemie digitalisiert – demnächst der Impfausweis, und vermutlich auch wieder das kommende Wintersemester. Digitalisierung meint dabei einen mehr oder weniger rational gesteuerten und an Organisation gebundenen Prozess in der Nutzung digitaler Dinge.
In einem aktuellen Masterseminar gehen wir hingegen in kleinen Forschungsprojekten einer anderen Frage nach. Uns interessiert, inwiefern sich im Horizont von Alltagsbewältigung auch eine Kultur der Digitalität aufweisen lässt, in der digitales Zeug jenseits expliziter, rationaler Kalküle genutzt und umgenutzt wird. Unter digitalen Dingen verstehen wir entlang von Überlegungen zur neuen Materialität und Praxistheorie Hardware, Software (und ihre Verbindung), die zuhanden sind – eingebettet und wechselseitig verweisend auf Alltagsroutinen, durch die sie ihre Bedeutung erhalten und die sie gleichzeitig hervorbringen. Das Smartphone und seine Software ist ein hierfür typisches digitales Ding – explizit nehmen wir seine Computerhaftigkeit nur wahr, wenn der Akku leer wird, ein Update unsere Routinen unterbricht oder eine neue Anwendung auftaucht, die die Installation einer App erfordert. Ansonsten ist ein Smartphone ein meist körpernah getragenes digitales Zeug, das unsere hybride Existenz ermöglicht und erzeugt, indem es hervorgezogen, verstaut, gewischt und betippt wird und dabei einen endlosen Strom von Text, Audio- und Videodateien generiert, speichert, übermittelt und empfängt und so das parallele Hier- und Dort-Sein in digitalen und analogen Bezügen erlaubt.
So weit, so gut – uns interessiert nun, was sich durch die Pandemie in der Nutzung digitaler Dinge unmerklich verschiebt im Koordinatensystem alltäglicher Sinngenese. Wir kommen dabei auch auf zunächst nicht naheliegende Praktiken, die durch das Virus subliminal transformiert werden. Das Geschehen rund um Datingapps wie Tinder ist eine davon – jene Apps und ihre Anwendungen, die ihren Siegeszug angetreten haben, weil man mit einem einfachen Wisch- und Weg Menschen finden kann, die für eine erotische Begegnung offen sind. Dementsprechend – so eine der Überlegungen – war es vielleicht nicht immer cool, zu sagen, dass mensch dort registriert ist. Tinder und Co., das war eine Parallelwelt zum offiziellen Ausgehen mit Freunden – die App für gewisse Stunden. In der Pandemie ist das Ausgehen mit Freunden verboten – die Kontaktbeschränkungen haben das soziale Leben vieler Menschen in einer noch nie gekannten Art und Weise zum Erliegen gebracht. Das hat, so eine der Thesen, zu einer Transformation der Nutzung von Datingapps geführt: Versteht man “tindern” zunächst als das routinisierte, algorithmische Herstellen von Matches zwischen zwei Menschen, so wird in der Pandemie plötzlich viel mehr aufgerufen als Erwartungserwartungen erotischer Kontakte – nämlich eine im Lockdown legitime Form des Kennenlernens in der erlaubten Form von 1:1-Präsenz. Die Bühne der erotisch konnotierten Sehnsuchtsdarstellung wird damit zu einer wesentlich umfangreicheren Sozialkontaktanbahnung transformiert. “Tindern”, das ist plötzlich vielleicht: Überhaupt Menschen kennenlernen können in der Einsamkeit der Pandemie. Man könnte auch sagen: Die üblicherweise große Bandbreite an Sozialkontakten und Sozialformen wie das Ausgehen in Gruppen, das Chillen in großen Clubs, private Partys mit den besten Freund:innen wird, folgt man dieser These, in die neue Privatheit intimer 1:1-Kontakte verlagert, und in diesem Zuge bekommen Datingapps eine neue Bedeutung.
Eine ähnliche Bedeutungssteigerung erhält im Zuge der Pandemie ein weiterer digitaler Apparat und die zugehörige Praxis, der Thermomix. Auch er wirbt nun mit dem abenteuerlichen Ausbruch aus der pandemischen Einsamkeit: “Thermomix® öffnet die Tür zu dieser Welt. Bist du bereit für das Abenteuer Thermomix®?” – so wird die neueste Version (Modell 6) angepriesen. Dabei darf man nicht vergessen, dass auch dieses digitale Ding im Zuge eines anderen Programms angetreten ist, nämlich wenig kochbegabten und/oder zeitknappen Menschen das smarte Kochen zu ermöglichen. Plötzlich – so auch hier zunächst eine These – ist aber das warme, selbst gekochte Essen zu Hause etwas ganz anderes als früher. Die Gastronomie ist nämlich zu, und der Thermomix plötzlich nicht nur eine praktische Maschine, sondern eine, die durch besonders ausgefallene Rezepte auch Genüsse ermöglicht, für die man früher vielleicht essen gegangen wäre. Worin sich zwei so unterschiedliche digitale Dinge wie Tinder und der Thermomix also treffen ist die Restrukturierung von Privatheit: die getinderten Einzelkontakte und die in den Thermomix downgeloadeten Essensabenteuer lassen sich beide als pandemiebedingte Bedeutungsaufladung privater Räume lesen. Und während es vor der Pandemie cool erschien, das getinderte Date zum Essen einzuladen, lassen sich im Lockdown vermutlich beide digitalen Praktiken sogar gesichtsverlustfrei verbinden: Gehen wir zu mir? Ich habe einen Thermomix, und hier ist ja alles zu.
Wie gesagt – diese und viele anderen Fragen werden wir versuchen, in diesem Sommersemester zu untersuchen. Den Humor verlieren wir dabei sicherlich nicht. Und wer weiß, vielleicht bekomme ich einige der Forschungsgruppen dazu, den Ergebnisbericht hier zu publizieren.