Feuerwehr, Psychiatrie und Sorgeroboter: Ergebnisse unserer Vignetten-Studie zu sozialpädagogischen Hilfen aus Kindersicht (SoHiKiS)

6 Min. Lesezeit

Die vorlesungsfreie Zeit hat begonnen – endlich habe ich Zeit, ein paar überfällige Blogposts nachzuholen. Heute geht es um die ersten Ergebnisse unserer SoHiKis-Studie, über deren Beginn ich hier schon etwas geschrieben habe. Der Abschlussbericht für die Bertelsmann Stiftung, die das Projekt wohlwollend gefördert hat, sowie ein erster Aufsatz (Weinhardt, Gerarts & Emanuel unter Mitarbeit von Luisa Dominke, Alina Matan, Laura Strauf, Magdalena Wahl und Neha Weiler, i.E.) sind fertig. Die spannenden Daten werden uns sicher noch weitere Veröffentlichungen ermöglichen. Neben den inhaltlichen Ergebnissen haben wir in diesem Projekt weitere zentrale Forschungserfahrungen gemacht, um die es hier gehen soll – nämlich dass qualitative Forschung in einer Pandemie erschöpfend schwierig ist, dass unsere entwickelte Vignette so gut funktioniert hat, dass ein Transfer in ein kindergerechtes Teilhabe-Tool (z. B. für die Sozialplanung in der inklusiven Jugendhilfe) vielversprechend ist und dass wir insgesamt an vielen Stellen noch weit von einer lebensweltorientierten Sozialpädagogik entfernt sind.

Tabelle mit einer Übersicht über die Workshops in SoHiKiS
realisiertes Sample

Die Pandemie hat uns bis zum Ende zweifeln lassen, ob unsere Studie überhaupt noch durchführbar war – zwei Lockdowns fielen in unseren Projektzeitraum. Wir hatten sechs Workshops mit Kindern von 6 bis 14 Jahren in Präsenz geplant, und der von uns realisierte Zugang über eine spielerische Vignette schloss aus, digitale Pseudoalternativen zu nutzen. Unter außerordentlichen Mühen, anders lässt sich das nicht sagen, haben unsere Praxispartner Palais Trier und Mobile Praxis Darmstadt mit unserem Forschungsteam immer neue Anläufe unternommen, um das gewünschte Sample zu gewinnen. Dass die so realisierten Workshops dann ein voller Erfolg geworden sind und sich dabei niemand angesteckt hat, dafür haben Luisa Dominke, Alina Matan, Laura Strauf, Magdalena Wahl und Neha Weiler als wissenschaftliche Hilfskräfte gesorgt – danke, ohne eure Hilfe wäre es schlicht nichts geworden! Schwer auszuhalten war in dieser Zeit auch, dass Forschungsteams mit einem so angelegten Feldzugang unweigerlich zu Pandemieverlierer:innen wurden. Staunend konnten wir in unserer mühsamen Feldzeit auf all diejenigen Studien blicken, denen der Lockdown sogar zuspielte – unzählige Onlinebefragungen und ad hoc auf Video umgestellte Interviewstudien haben die Chance der digitalen Zwangsverhäuslichung genutzt. Ob die damit einhergehenden methodologischen Fragen jemals umfassend geklärt werden, wage ich allerdings zu bezweifeln ;-).

SoHiKiS-Vignette, Phase 1, Kinder bauen mit Klemmbausteinen kindliche Sorgethemen auf
SoHiKiS-Vignette, Phase eins

Es hat sich in unserem Fall auf jeden Fall gelohnt, die neu entwickelte SoHiKiS-Vignette wie geplant in Präsenz zu nutzen. Um den konjunktiven Erfahrungsraum von Kindern mit ihren Konzepten von Sorgen, Nöten und Hilfen zugänglich zu machen und dabei einen geschützten Rahmen zu bieten, haben wir die Kinder mit dieser standardisierten und manualisierten Vignette mit zugehörigem Spielmaterial aus Klemmbausteinen zum Erzählen und Agieren gebracht. Diese Vignette ist in zwei Phasen unterteilt. Im ersten Teil werden den Kindern in sehr offener Form Impulse zu drei exemplarischen Bewältigungsthemen angeboten:

• Beratung (mit jemandem vertraulich sprechen können)
• ambulante Hilfen (familienergänzende Unterstützung bekommen)
• Gefahr des Kindeswohls (mit Gewalterfahrung umgehen)

Die Kinder werden dazu nach einer Aufwärm- und Kennenlernphase im ersten Vignettenteil aufgefordert, eine Spielfigur in ihrem Alter aus dem Klemmbaustein-Material auszusuchen, ihr einen Namen zu geben und so die von den Forscher:innen dargebotenen Vignettenimpulse entlang einer Familiengeschichte spielerisch mit Spielmaterial auszuagieren. Schritt für Schritt werden den Kindern so typische Lebenssituationen (z.B. streitende oder selbst der Hilfe bedürfende Erwachsene) dargeboten, um in den Kindergruppen Phänomene von Angewiesenheit, Sorge und Hilfebedürftigkeit thematisieren zu können. Die Impulse sind dabei so konstruiert, dass sie auf existenzielle kindliche Sorgephänomene mit sozialpädagogischer Relevanz zielen, aber im ersten Teil der Vignette so wenige wohlfahrtsstaatliche Strukturen wie möglich implizieren. 

Fantasiestadt Care-Town für Phase zwei der SoHiKiS-Vignette

Die sich darin anschließende zweite Phase der Vignette ist stärker strukturiert. Auf einem Spielteppich, der die Fantasiestadt Care-Town darstellt, werden den Kindern zunächst die im SGB VIII definierten Hilfen und Institutionen vorgestellt. Danach werden sie gebeten, sich vorzustellen, dass das Vignettenkind aus der ersten Workshopphase die Hilfen in Care-Town nutzen kann. Sie werden aufgefordert, mögliche Gebrauchsweisen dieser Hilfen auszuagieren und auf diese Weise die Erzählung um das Vignettenkind fortzusetzen. Den Abschluss der zweiten Vignettenphase bildet die Leitfrage, wie erreichbar den Kindern die sozialstaatlichen Hilfen in Care-Town erscheinen und welche Ideen zu anderen und möglicherweise besseren Zugangswegen ihnen einfallen. In den Workshops mit digitaler Ergänzung kommen zusätzlich Tablets zum Einsatz, mit denen die Kinder malen und schreiben können.

Sozialpädagogische Angebote in Care-Town nach SGB VIII für Phase zwei der SoHiKiS-Vignette

So können digitale Hilfekonzepte der Kinder im Sinne eines basalen Design-Thinking-Prozesses ausagiert werden, ohne dass potenziell adultistische Engführungen wie z.B. die Idee der behördenförmig vorgegebenen digitalen Abbildung eines Jugendamtes oder einer Beratungsstelle mit bestimmten sozialräumlich geordneten Bezirken das Spiel bestimmen. Wir waren selbst sehr gespannt, ob und wie gut unsere neu entwickelte und komplexe SoHiKiS-Vignette funktionieren würde und sehen unsere Erfahrungen sowie das daraus entstandene Material als Bestätigung für den weiteren Einsatz. Dieser kann sowohl auf Grundlagenforschung als auch praktische Projekte zielen, in denen Kinder z.B. in Planungs- und Konzepterstellungsprozesse systematisch mit ihrer eigenständigen Akteurschaft eingebunden werden können. Sie kann so auch als Instrument der Umsetzung für die im SGB VIII geforderte Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Beteiligungsprozessen verstanden werden. Weitere Evaluation der Vignette wären wünschenswert, z.B. ausgedehnte Altersvariationen sowie umfassende Erprobungen bezogen auf intersektional verschränkte Lebens- und Bewältigungslagen (entlang von Flucht, Migration, Behinderung, Krankheit oder sozialem, kulturellem und materiellem Kapital).

Und schließlich haben uns einige gewonnene Ergebnisse aus den ersten Auswertungen sehr nachdenklich gemacht. Drei Befunde sind zentral: Kinder suchen nach wie vor zunächst im Nahfeld nach Hilfe. Das ist dann nicht problematisch, wenn sie dort auf Erwachsene treffen, die sie unterstützen und gegebenenfalls weiterverweisen können. Fehlt solches soziales und kulturelles Kapital, dann werden sozialpädagogische Hilfen von Beginn an mit einem Malus der Nutzlosigkeit belegt. Zum Tragen kommt dann die aus der Forschung gut bekannte interventionistische Logik des harten Eingreifens durch Feuerwehr, Polizei und Psychiatrie – auch und gerade dann, wenn sozialpädagogische Angebote durchaus bekannt sind. Lebensweltlich gesprochen gelingt es sozialpädagogischen Angeboten aus dieser Kinderperspektive nicht, die Borniertheit des Alltags (Thiersch 2020) zu durchbrechen. Vielmehr zeigt sich ein bewältigungstheoretischer Matthäus-Effekt in der Adressierung und Nutzung sozialpädagogischer Hilfen aus Kindersicht. Dieser setzt sich auch in der Nutzung digitaler Optionen fort, denn der Umgang mit Digitalisierung und Digitalität vollzieht sich ebenso heterogen wie das Erschließen kopräsenter, traditioneller Hilfen entlang der soziomateriellen Ressourcen kindlicher Lebenswelten. So können digitale Technologien einerseits als verbesserte Versionen einer simplen Notruffunktion konzeptualisiert werden, die kaum erwähnenswert ist. Auf der anderen Seite stehen elaborierte, hybride Konzepte der Lebenswelt aus Kindersicht, in denen digitale Technologien Distanzen nicht nur wie ein Telefon überwinden, sondern neue Räume aufspannen. Dabei werden bekannte Sozialraumfiguren Sozialer Arbeit deutlich herausfordert und es kommen ganz neue Typen von Akteur:innen ins Spiel, beispielsweise in Form von Hilferobotern.
In der weiteren Auswertung unserer Daten streben wir eine anspruchsvolle Typenbildung sozialpädagogischer Hilfen aus Kindersicht an, in der ungehobenes Potenzial für weitere Forschung und Praxisentwicklung deutlich wird. Im Sinne einer lebensweltorientierten Ausgestaltung sozialpädagogischer Hilfen und einer kindgerechten Adressierung sind die SoHiKiS-Daten vor allem an den Stellen interessant, an denen die interviewten Kinder zwar Sorgen und Notlagen plastisch darstellen, während gleichzeitig das formale System sozialstaatlicher Hilfen als unbekannt oder irrelevant erzählt wird.

Weitersagen:

Schreibe einen Kommentar