Der vorliegende Beitrag möchte Erkenntnisse bündeln, die im Zuge der Vor- und Nachbereitungen einer Arbeitsgruppe anlässlich der Jahrestagung der DGfE Kommission Sozialpädagogik 1https://www.dgfe.de/sektionen-kommissionen-ag/sektion-8-sozialpaedagogik-und-paedagogik-der-fruehen-kindheit/kommission-sozialpaedagogik/kommissionstagung-2025 im März 2025 zutage getreten sind. Im Fokus der Arbeitsgruppe stand die Betrachtung von Handlungspraktiken, die mit und durch digitale Dinge im Kontext sozialpädagogischer Fragestellungen hervorgebracht werden. Die vorgestellten Erkenntnisse entstammen vier laufenden Dissertationsstudien, die sich – trotz ihrer unterschiedlichen Nuancierungen in ihren methodologischen Anlangen entlang der Grounded Theory Methodologie (Charmaz, 2014; Strauss & Corbin, 1996) – durch eine praxistheoretische Perspektive (Reckwitz, 2003) auf ihre Untersuchungsgegenstände auszeichnen. In diesen Forschungspraktiken sind darüber hinaus unterschiedliche Verhältnismäßigkeiten von theoretischen und empirischen Wissensbeständen eingeschrieben, die nachfolgend entlang der einzelnen Dissertationsstudien und Beiträge zur Arbeitsgruppe genauer in den Blick genommen werden. Dieses Vorgehen verfolgt das übergeordnete Ziel, die Vielfalt der „unterschiedliche[n] Wege“ (Friebertshäuser et al., 2013, S. 379) und damit einhergehenden heterogenen Verhältnismäßigkeiten von Theorie und Empirie, die durch qualitative sozialpädagogische Forschung zutage gefördert werden, hervorzuheben.
Studie 1: Empirie-geleitet frühe sozialpädagogische Professionalisierungsprozesse rekonstruieren. Forschungsmethodische Erkenntnisse durch die Anfertigung einer ethnographischen Collage zu sozialpädagogischen Lern- und Bildungsprozessen
Stefanie Neumaier
Hinführung
Die Hervorbringung als auch die Beschaffenheit qualitativer Forschungsdaten bedingt mitunter, welche Fragen an das Material gerichtet werden können und damit auch, welcher Erkenntnisgewinn möglich ist. Diese Ausgangslage ist in ethnographischen Forschungen eingeschrieben (Richter, 2023, S. 293).
Entlang des Erkenntnisinteresses, inwiefern der Umgang mit digitalen Dingen sozialpädagogische Professionalisierungsprozesse in besonderer Weise befördert, und vor dem Hintergrund einer unsystematischen Ausgangslage, was gesicherte Wissensbeständen in dieser Frage anbelangt (Kutscher, 2024), kann die Notwendigkeit eines Vorgehens zur Untersuchung dieses Forschungsgegenstandes abgeleitet werden, welches die Empirie möglichst unvoreingenommen (zur kritischen Einordnung von Unvoreingenommenheit: Strübing, 2021, S. 56–58) in den Blick nimmt. Die dem Beitrag zugrundeliegende Dissertationsstudie versucht vor diesem Hintergrund, sozialpädagogische Professionalisierungsprozesse ohne eine Vorauswahl von Rahmentheorien und mit einer ‚radikalen Offenheit‘ für im Feld einer hochschulischen Ethnographie anfallenden Daten zu begegnen.
Eine Herausforderung dieses Vorgehens besteht darin, den umfassenden, heterogen beschaffenen Datenkorpus wissenschaftlich kontrolliert und intersubjektiv nachvollziehbar aufzubereiten, sodass weder Material zur Komplexitätsreduktion übergangen noch der Auswertungsprozess intransparent wird (Friebertshäuser et al., 2013, S. 387–388). Wenngleich dies ein in letzter Instanz utopisches Unterfangen darzustellen scheint, so löst die von Friebertshäuser und Kolleginnen begründete Auswertungsstrategie der „Ethnographischen Collage“ (Friebertshäuser et al., 2013, S. 387–388) – wie sie in der vorliegenden Dissertationsstudie verfolgt wird – die grundlegende Anforderung einer „dichten Beschreibung“ (Geertz, 1987) mittels Datentriangulation als auch das Erfordernis der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ein.
Vorgehensweise und Form der Ethnographischen Collage
Die eingangs angesprochenen vielfältigen Wege im erziehungswissenschaftlich fundierten qualitativen Forschungsprozess werden in der vorliegenden Dissertationsstudie mithilfe einer von der Empirie geleiteten, theoretischen Rekonstruktion begangen. Dieses im Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie nach Strauss und Corbin (1996) angelegte Vorgehen fassen Friebertshäuser und Kolleginnen (2013) am Beispiel einer Studie von Tertilt (1996) in drei Phasen zusammen: ausgehend von einer Frage- oder Problemstellung gilt es (1) zunächst Material zu erheben, welches im Anschluss an die Feldforschungsphase (2) „zu Konzepten und Hypothesen verdichtet“ (Friebertshäuser et al., 2013, S. 387) und schließlich (3) einer theoretischen Klassifizierung und Interpretation unterzogen wird. Gegenstand dieses Vorgehens bildet ein Erkenntnisinteresse an der Beschaffenheit sozialpädagogischer Lern- und Bildungsprozesse, welche als frühe Professionalisierungsprozesse verstanden werden, im Umgang mit digitalen Lerngegenständen.2Die vorliegende Dissertationsstudie perspektiviert den Untersuchungsgegenstand – digitale Projekte in der Sozialen Arbeit – in einer erziehungswissenschaftlichen Lesart als digitale Lerngegenstände. Dazu zählen im vorliegenden Sample u.a. ein digitaler Schaukasten für die offene Kinder- und Jugendarbeit, der Umgang mit Virtual Reality in der Sozialen Arbeit und Einsatzmöglichkeiten von Unterstützter Kommunikation in Eingliederungshilfen.
Im Anschluss an die im vorliegenden Fall abgeschlossene Erhebungsphase gilt es eine Passung zwischen der Form der Ethnographischen Collage, dem vorliegenden Material und dem Forschungsprozess herzustellen (Friebertshäuser et al., 2013, S. 390–391). Die zusammenstellende Auswahl der Forschungsdaten zu Sinneinheiten der Ethnographischen Collage hat gezeigt, dass es sich um ein sequenziell beschaffenes Material handelt, welches auf die Begebenheiten im vorliegenden Feld zurückzuführen ist. Daneben ist es dem Untersuchungsgegenstand, projektgruppenbezogenes Lernen Studierender, immanent, dass die Lern- und Bildungsprozesse im jeweiligen Projektverbund einzuordnen sind. Als Synthese fiel die Entscheidung zur Form der Sinneinheit, die den Umgang der Studierenden mit den digitalen Lerngegenständen innerhalb der einzelnen Projektgruppen in den Blick nimmt, auf sequenzielle Gruppenportraits. Diese Form ermöglicht eine Vergleichbarkeit innerhalb der Studierendengruppen, aber auch auf einer übergeordneten Ebene, da sie die Sequenzen des studentischen Lernens trotz heterogen beschaffener digitaler Lerngegenstände qua übergeordneter, vergleichbarer Kategorien der Gruppenportraits abbildet.
Ausblick
Der weitere Auswertungsprozess wird zeigen, ob eine weitere Sinneinheit erforderlich sein wird, die z.B. gruppenübergreifende Sequenzen des studentischen Lernens anhand von digitalen Lerngegenständen abbildet. Auch könnten damit Perspektiven aus dem Material eingefangen werden, die ‚von außen‘ auf das Material blicken, etwa durch von Dritten formulierte Erwartungen an das studentische Lernen, wenn dieses im Umgang mit digitalen Lerngegenständen geschieht. Im Rahmen der anschließenden theoretischen Klassifizierung und Interpretation könnte somit ein Abgleich zwischen den Erwartungen Dritter, der alltäglichen Verfasstheit studentischen Lernens im Umgang mit digitalen Lerngegenstanden und dem wissenschaftlichen Diskurs hierzu stattfinden. Ein erstes Aufbrechen des Materials hat ergeben, dass eine Besonderheit im Umgang mit digitalen Lerngegenständen durch Studierende der Sozialen Arbeit in damit einhergehenden Irritationen der Lernenden liegen könnte (siehe ausführlich Neumaier & Weinhardt, 2024). Bereits jetzt kann daher vorläufig zwischenbilanziert werden, dass durch den studentischen Umgang mit digitalen Lerngegenständen und der Untersuchung damit einhergehender Lern- und Bildungspraktiken disziplinäre Grundsatzfragen einhergehen – sei es im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand, oder auch im Kontext von forschungsmethodischen Fragen.
Studie 2: Handlungspraktiken im Kontext hybrider Beratungsformate: Bewältigungsstrategien von Beratungslerner:innen in (hoch immersiven) Videoberatungssettings
Anne-Kathrin Schmitz
In den vergangenen Jahren haben sich digitale Beratungsformate in der Sozialen Arbeit rasant und flächendeckend etabliert.
Besonders die Videoberatung wurde dabei zum bevorzugten Medium, um Beratungsgespräche möglichst reibungslos vom analogen in den digitalen Raum zu überführen (z.B. Meyer & Alsago, 2021). Auch mit Blick auf die Zukunft erscheint die Videoberatung als vielversprechendes Format, um die Beratungsinfrastruktur in Krisenzeiten – sei es bei Pandemien, Hochwasser oder Waldbränden – aufrechtzuerhalten, wenn persönliche Begegnungen nicht möglich sind. Da jedoch davon auszugehen ist, dass Videoberatung keine 1:1 Übertragung von Präsenzberatung in den digitalen Raum darstellt, folgt hieraus eine Notwendigkeit der Aus- und Weiterbildung (angehender) Fachkräfte, ebenso wie eine Untersuchung dahingehend, welche Rolle Technik bzw. digitale Dinge in digitalen Beratungsprozessen einnehmen (bspw. Rodgers et al., 2024).
Im vom BMBF geförderten Forschungsprojekt STellaR (Laak et al., 2021; Schmitz, 2023; Schmitz et al., 2024; Schmitz et al., 2022) wird aktuell ein Videoberatungssetup entwickelt, das eine niedrigschwellige, wohnortnahe psychosoziale Beratung in ländlichen Regionen ermöglichen soll – eingebettet in eine vertrauensvolle, institutionelle Umgebung. Ergänzt wird das hoch immersive Setting durch Funktionen zur gemeinsamen Dokumentenbearbeitung über Distanz. Dadurch entsteht ein hybrides Beratungskonzept in zweifacher Hinsicht: zum einen durch die Möglichkeit einer Integration in Blended- Counselling-Ansätze, zum anderen durch die dauerhafte Verbindung digitaler Elemente mit physisch-räumlicher Infrastruktur (Schmitz et al., 2022). Zudem wird in einer im Rahmen dieses Forschungsprojektes entstehenden Dissertation untersucht, wie (angehende) Fachkräfte in solchen hybriden Settings interagieren und welche Praktiken im Umgang mit Adressat:innen und digitalen Dingen entstehen.
Mit Hilfe von Fragebögen, Critical Incident Interviews und den Videoaufzeichnungen erster Videoberatungsübungen von Beratungslerner:innen (s.a. Schmitz, 2023; Schmitz et al., 2024) konnten hier erste Handlungspraktiken im Umgang mit digitalen Dingen gefunden werden. Die erhobenen qualitativen Daten wurden dabei mit Hilfe der Grounded Theory Methodology (Strübing, 2021) ausgewertet.3Dieser Prozess ist jedoch zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes noch nicht abgeschlossen. Im Sinne der Grounded Theory Methodology kann aus diesem Grund noch von keiner Sättigung gesprochen werden. Die hier dargestellten ersten Befunde sind daher unter dieser Perspektive zu betrachten.
Eine Besonderheit des Vorgehens innerhalb des vorliegenden Dissertationsprojektes ist der Umgang mit dem Theoretical Sampling. Da die Erhebung von Daten mit Studierenden nur im Rahmen von Lehrveranstaltungen möglich war, schlägt sich dies im Prozess des Theoretical Samplings nieder. In diesem Dissertationsprojekt ist die Auswahl der Fälle jedoch festgelegt nach den Erhebungszeitpunkten und dem Stand der Technik. Als Fälle minimaler Kontrastierung können hierbei die Überprüfung verschiedener Settings (Bildschirmgrößen, Kameras und Mikrofone) verstanden werden. Als Fälle maximaler Kontrastierung können dagegen die Erhebungen verstanden werden, in denen sich die Studierenden untereinander im Rahmen eines Rollenspiels beraten haben versus die Erhebungen, in denen die Studierenden Simulationsadressat:innen beraten haben.
Ein zentrales Ergebnis zeigt, dass spezifische Handlungspraktiken im Umgang mit digitalen Dingen sichtbar werden – etwa die bewusste Positionierung vor dem Bildschirm, Begrüßungsrituale, die Thematisierung technischer Aspekte oder der Fokus auf ‚frontalen‘ Blickkontakt, während der Blick seltener durch den Raum schweift. Kommt es jedoch zu unerwarteten Problemen (insbesondere aufgrund des hybriden, hoch immersiven Charakters der Videoberatung) geraten Studierende in Unsicherheiten, da weder fachliche noch alltagsbezogene Routinen greifen. Dies zeigt sich etwa, wenn gemeinsam zu bearbeitende Dokumente nicht lesbar sind, die Studierenden aus dem Kamerabild verschwinden oder der Kamerawinkel keine klare Einschätzung über die Aufmerksamkeit des Gegenübers zulässt. In solchen Situationen sind sie gezwungen, situativ zu handeln und diese Unsicherheiten zu bewältigen – sei es durch spontane Anpassung oder aktive Problemlösung – um ihre Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und dem Gefühl der Hilflosigkeit entgegenzuwirken.
Die ersten Erkenntnisse machen deutlich, dass (hoch immersive) Videoberatung nicht selbstverständlich gelingt, sondern gezielt erlernt werden muss. Sie lässt sich nicht ohne Weiteres aus Erfahrungen in der Präsenzberatung ableiten, da die eingesetzte Technik das Beratungsgeschehen maßgeblich prägt und beeinflusst. Welche Rolle digitale Dinge in diesem Kontext genau spielen, bedarf jedoch weiterer Forschung.
Studie 3: Sharenting und Doing Digital Parenthood:
Das Teilen von Bildern der eigenen Kinder auf Social Media als Thema digitaler Elternschaft
Maja Michel
Hinführung
Sharenting als Zusammenschluss aus den beiden englischen Begriffen ‚share‘ und ‚parenting‘ (Oxford English Dictionary, 2022) meint eine geteilte Elternschaft (Alig, 2021). Konkret geht es dabei um Eltern, die z.B. Fotos oder Videos ihrer Kinder auf Sozialen Plattformen dokumentieren bzw. teilen (Alig, 2021; Brosch, 2018; Kutscher, 2021, 2022).
Diesbezüglich gibt es im wissenschaftlichen und mittlerweile auch gesellschaftlichen Diskurs scharfe Kritik aus unterschiedlichen Gründen, wie bspw. die Missachtung kindlicher Privatsphäre (Brosch, 2018; Siibak & Traks, 2019) und der Kinderrechte (Alig, 2021; Frantz et al., 2016; Kutscher, 2021; Ní Bhroin et al., 2022). Eine zentrale Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, welche Verantwortung Eltern übernehmen (Blum-Ross & Livingstone, 2017; Damkjaer, 2018) und wie der individuelle Umgang mit Sharenting aussieht.
Der individuelle Umgang mit Sharenting ist das Forschungsinteresse einer Dissertationsstudie im Stil der Grounded Theory Methodology nach Strauss und Corbin (Strübing, 2021).
Im Rahmen dieser wurden zum einen Eltern interviewt, die aus ihrer Sicht nur auf ‚privaten‘ Plattformen Bilder u.a. ihrer Kinder teilen (z.B. Messenger wie WhatsApp) oder Bilder ihrer Kinder im ‚öffentlichen‘ Raum zensieren (z.B. Facebook). Zum anderen wurden Interviews mit Eltern geführt, die als Influencer:innen tätig sind und ihre Kinder auf ihren Social-Media-Kanälen teilen oder aus bestimmten Gründen nicht teilen. Im Folgenden sollen Auszüge aus den bisherigen Ergebnissen diesbezüglich kurz dargestellt werden.
Erste Ergebnisse
Doing Good Parenthood
Wie die bisherigen Ergebnisse zeigen, handeln Eltern auf Grundlage der Idee von Doing Good Parenthood (Lind et al., 2016) und der damit verknüpften Auseinandersetzung der adäquaten Förderung und des Schutzes von Kindern (Jergus et al., 2018, S. 9) – dabei wird auch der Datenschutz relevant. Diesbezüglich entwickeln Eltern verschiedene Strategien, wie z.B., dass bestimmte Motive nicht geteilt werden. Das folgende Beispiel zeigt, dass es dabei insbesondere um den Schutz der eigenen Kinder im Hinblick auf das Darknet geht: „Also wenn man jetzt in das ganz extrem gehen, dass mich äh irgend äh wer im Internet ähm zum Beispiel Bilder von meinen Kindern dann ins Darknet stellt, um da dann vielleicht irgendwen mit Kinderpornografie dahinter zu äh sehen […] weil es ein Bild in der Badewanne von meinem Kind ist […] oder im Urlaub im Meer oder wie auch immer. Das sind Sachen, die ich nicht dadrüber teilen werde.“ (eigene Herv.).
Elternschaft als Arena
Elternschaft wird darüber hinaus regelrecht zur Arena wie z.B. durch die Beurteilung anderer Eltern deutlich wird. Durch diese Beurteilung sowie Angst vor dieser passen Eltern ihren Umgang teilweise an. Im folgenden Beispiel nimmt ein:e Interviewte:r Bezug auf eine negative Erfahrung bzgl. des Teilens von Kindern auf Social Media: „[…] aber das hat ganz viel mit mir persönlich gemacht […] Seitdem greif ich nicht mehr durch, also ich hab Erziehungsangst entwickelt. Das hat mein Mann auch schon gemerkt […] Ich bin sonst immer ne sehr straighte und geradeaus Person gewesen. Meine Kinder wussten immer, wo sie durch- also wo sie zu laufen […] haben und seitdem ähm in der Öffentlichkeit fällt mir das ganz extrem schwer durchzugreifen und zu sagen: ‚Bis hier mein Freund und nicht weiter.‘ “
Elterliche Zuschreibungen
In den Interviews tauchen immer wieder elterliche Zuschreibungen auf, welche „[d]ie Mitwirkung an Entscheidungen, die den besten Interessen der Kinder dienen sollen, […] an die erst noch zu entwickelnde Reife und Rationalität [knüpfen].“ (zu Adultismus in Kinderrechten, Liebel & Meade, 2024, S. 271). Eltern entscheiden zudem aus ihrer Perspektive, was ‚richtig‘ und ‚falsch‘ ist und geben das an ihre Kinder weiter Dies wird bspw. durch den Nicht-Einbezug von Kindern aufgrund des Alters und/oder der Reife deutlich: „[…] ich kann mein Kind noch nicht fragen, ob er das möchte oder nicht.“
Darüber hinaus vermitteln Eltern Vorstellungen und Handlungspraktiken vor dem Hintergrund, was aus ihrer Sicht bspw. veröffentlicht werden darf und was nicht: „Und dann haben wir das dann so im Rahmen gemacht und haben dann dadrüber auch gesprochen, was […] warum darf man das jetzt veröffentlichen oder was nich‘.“
Fazit
Doing Digital Parenthood beinhaltet grundsätzliche Fragestellungen eines Doing Good Parenthood, wie z.B. den Umgang von Eltern mit ihren Kindern. Es geht um Eltern, die ihr Kind schützen möchten und daher z.T. digital adäquate Strategien einsetzen (z.B. bestimmte Motive nicht teilen). Es geht um Eltern, die ihr Kind für nicht alt und reif genug einschätzen und deshalb gar nicht erst nach seiner Meinung fragen. Elternschaft verlagert sich demnach in das Digitale mit seinen neuen Anforderungen (z.B. Darknet).
Studie 4: Digitalisierung in Curricula der Sozialen Arbeit – eine konstruktivistische Annäherung zur Rekonstruktion von Verankerungspraktiken
Michelle Mittmann
Das Digitale bewirkt tiefgreifende Veränderungen in der Lehre, im Lernen und in der Prüfungspraxis innerhalb von Studiengängen der Sozialen Arbeit. Dies erfordert sowohl eine curriculare Anpassung als auch eine didaktische Neuausrichtung.
Um Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie curriculare Anpassungen und didaktische Neuausrichtungen gelingen können, werden im Rahmen eines Dissertationsprojektes Gelingensfaktoren curricularer Verankerungspraktiken zur Integration des Digitalen in der Sozialen Arbeit rekonstruiert. Dabei wird nach Charmaz (2014) und ihrer konstruktivistischen Auslegung der Grounded Theory Methodology vorgegangen. Um die gewählte methodologische Ausrichtung zu begründen, wird auf drei wesentliche Merkmale Charmaz‘ Forschungsstils verwiesen: 1. Die konstruktivistische Ausrichtung und Subjektivität, 2. die reflexive Haltung und theoretische Sensibilität und 3. der Verzicht auf Generalisierbarkeit.
Charmaz‘ konstruktivistische Ausrichtung und ihr Blick auf Subjektivität fokussiert die Rolle der Forschenden im Forschungsprozess. Ihre Perspektiven, Privilegien, Positionen und Interaktionen beeinflussen die Datenerhebung und -analyse. Charmaz betrachtet die Forscher:innen nicht als neutrale Beobachter:innen, sondern als aktiv Beteiligte (Charmaz, 2014, S. 148). Vor dem Hintergrund der eigenen Beteiligung an einem Hochschulentwicklungsprojekt zur curricularen Verankerung des Digitalen wird somit im Rahmen der Forschung ein regelgeleiteter und transparenter Umgang mit den Perspektiven und Positionen der Forscherin gewährleistet. Der Forscherin wird wiederum eine reflexive Haltung sowie theoretische Sensibilität abverlangt, um den Einfluss ihrer persönlichen Position auf die Interpretation der Daten kritisch zu hinterfragen und transparent zu machen.
Abschließend soll an dieser Stelle auf den Verzicht von Generalisierbarkeit in Anlehnung an Charmaz verwiesen werden. Stattdessen wird anhand der konstruktivistischen Auslegung der Grounded Theory Methodology die enge Verbindung zu den spezifischen Kontexten und Bedingungen des empirischen Feldes betont (Mittmann, 2025, S. 53). Dadurch wird eine tiefere und kontextspezifische Analyse ermöglicht (Equit & Hohage, 2016, S. 31–32).
Es wird – in Anlehnung an Kraus (2019) – das Ziel verfolgt, die Rekonstruktionen „in eine möglichst widerspruchfreie Wirklichkeitskonstruktion“ (Kraus, 2019, S. 201) einzubringen, die stets an die Perspektive der Beobachter:innen gebunden ist.
Gemeinsame Schlussbetrachtung
Anhand der vier beschriebenen Ansätze kann auf den Mehrwert der Grounded Theory Methodology zur Beforschung von Handlungspraktiken, die mit und durch digitale Dinge hervorgebracht werden, verwiesen werden: Sie ist besonders geeignet, um Erkenntnisse zu (relativ) neuen Phänomenen des Digitalen hervorzubringen, indem sie einen induktiven, datengestützten Forschungsansatz verfolgt. Insbesondere im Kontext digitaler Phänomene – die sich dynamisch entwickeln, oft wenig theoretisch fundiert sind und in vielschichtigen sozialen Prozessen verankert liegen – bietet die Grounded Theory Methodology eine Offenheit, die notwendig ist, um emergente Strukturen und Bedeutungen zu erkennen.
Ihre Prozess- und Kontextsensibilität macht sie zu einem besonders wertvollen Instrument, um die soziale Relevanz und Wandelbarkeit digitaler Praktiken tiefgreifend zu erfassen.
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[2] Die vorliegende Dissertationsstudie perspektiviert den Untersuchungsgegenstand – digitale Projekte in der Sozialen Arbeit – in einer erziehungswissenschaftlichen Lesart als digitale Lerngegenstände. Dazu zählen im vorliegenden Sample u.a. ein digitaler Schaukasten für die offene Kinder- und Jugendarbeit, der Umgang mit Virtual Reality in der Sozialen Arbeit und Einsatzmöglichkeiten von Unterstützter Kommunikation in Eingliederungshilfen.