Die Darmstädter Jugendhilfelandschaft ist in Bewegung: Neu entwickeltes Hilfeplanverfahren wird konkret

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Vortrag von Markus zum Drei-Ebenen-Modell emotional bedeutsamer Ziele

Gestern Abend ist ein für mich sehr wichtiger Fachtag erfolgreich zu Ende gegangen. Initiator war Markus Emanuel, der in einem zwei Jahre umfassenden Prozess mit dem Städtischen Sozialdienst in Darmstadt und allen (!) freien Jugendhilfeträgern ein verbessertes Hilfeplanverfahren für die Hilfen zur Erziehung entwickelt hat. Aus unseren zahlreichen Kooperationen ist dann die Idee entstanden, die Sache mit einem passgenauen und innovativen Professionalisierungsangebot zu ergänzen.

Drei Ebenen, die Inhalte und Akteurskonstellationen differenzieren

Hilfen zur Erziehung sind eine der wichtigsten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe: Immer wenn es um Heimunterbringung, Sozialpädagogische Familienhilfe etc. geht, sind solche Hilfen gemeint. Sie sind so einer der größten Teile dessen, was man gemeinhin als Sozialpädagogik/Soziale Arbeit bezeichnet. Außerhalb wissenschaftlicher Texte tauchen sie leider meist nur auf, wenn es negative Schlagzeilen dazu gibt, z.B. wenn das Jugendamt oder eine Heimeinrichtung vermeintlich oder tatsächlich Fehler gemacht hat.

Hilfeplangespräche sind ein Mix aus unterschiedlichen Formaten helfender Interaktion.

Wenig ist hingegen bekannt, wie komplex das Verfahren ist, bis Kinder, Jugendliche und ihre Familien eine solche Hilfe bekommen können – zunächst egal, ob diese sich selbst beim Jugendamt gemeldet haben oder eine fremde Person oder Organisation einen solchen Kontakt initiiert. In Gang kommt dann in den allermeisten Kommunen das, was man das Hilfeplanverfahren nennt: Es wird der Bedarf an Hilfe ermittelt und gemeinsam mit Adressat*innen ein Träger ausgesucht, der diese Hilfe erbringen kann.

Was müssen Fachkräfte wissen und können, um komplexe, emotional bedeutsame Ziele zu finden und zu operationalisieren?

Diese Verhandlungen, Aushandlungen und Kooperationsgespräche sind außerordentlich komplex, so einfach die Sache zunächst klingt: Es entstehen beispielsweise komplizierte Vertragsverhältnisse, da die Adressat*innen die Hilfen bekommen, sie aber von den Kommunen bezahlt und gesteuert werden. Es entsteht dabei das klassische „Trägerdreieck“ aus Leistungserbringer (dem Träger, z.B. einer Heimeinrichtung), Leistungsbezieher*innen (den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien) und dem Kostenträger (der Kommune).

Im reflexiven Gespräch mit den Fachkräften nach unseren Vorträgen

Im neuen Modell, in das auch Markus Diss, angesiedelt an der Grenze zwischen Institutionsökonomik (die genau solche komplexen Vertragsverhältnisse thematisiert) und Sozialpädagogik, eingegangen ist, haben diese komplexen Verhandlungen eine klare Struktur bekommen: Auf drei Ebenen wird zunächst ein emotional bedeutsames Grundsatziel formuliert, das dann in Rahmenziele und Ergebnisziele zunehmend konkretisiert wird. Es geht dabei aber nicht nur um die so realisierte Komplexitätsreduktion- und Erhöhung im Umgang mit den Inhalten der Ziele, sondern auch um Klarheit für die Akteure: Das Grundsatzziel entwickelt das Jugendamt, die Rahmenziele der Träger und das Jugendamt zusammen, für die Ergebnisziele ist alleine der Träger verantwortlich. So kann viel unnötiges Hin- und Her in der Veranwortungsklärung umgangen werden und in den drei Gesprächsanlässen, die daraus resultieren, erhalten sowohl die Adressat*innen als auch Sozialpädagog*innen Freiräume, die deutlich markiert sind und vieles leichter machen dürften.

Theorievermittlung, dann Übung, dann Reflexion: Optimale Bedingungen für Professionalisierung

Die Innovationskraft, die in dieser im Grund genommen einfachen Idee liegt, entfaltet sich erst, wenn man die Anlage des Projektes sieht: Alle (!) freien Träger der Jugendhilfe in Darmstadt und alle Mitarbeiter*innen im Jugendamt haben dieses Modell gemeinsam entwickelt, konsensuell akzeptiert und sie haben am gestrigen Fachtag zusammen einen wesentlichen neuen Schritt begonnen, nämlich das Rollout in die sozialpädagogische Praxis. Das kann ein echter Qualitätssprung werden, wenn sich eine regional zusammengehörige Jugendhilfelandschaft dauerhaft als Community of Practice sieht, die gemeinsam lernt und sich weiterbildet.

Und hier kam der Fachtag ins Spiel, den wir konsequent als Lern- und Bildungsort für die Fachkräfte gestaltet haben, was uns ziemlichen Bammel, ob es denn klappt, beschert hat. Wir wollten drei zentrale Lernelemente in ihrer engen Verzahnung umsetzen: Wissenserwerb, Übung und Reflexion. Deshalb gab es am Vormittag Theorieinput zum Modell und zu Gesprächsführung und Professionalisierung, und am Nachmittag haben wir dann das BeraLab in einer erweiterten Form an den Start gebracht.

Ein Großteil unserer Sim-Crew war im Einsatz und hat anonymisierte Fälle aus der Jugendhilfe dargestellt. Ihr wart großartig!

Mit unseren extra geschulten Simulationsadressat*innen konnten die Fachkräfte aus dem Jugendamt und den freien Trägern unter stark realitätsangenäherten Bedingungen alle drei Phasen des Modells erproben und anschließend in einer gemeinsamen Reflexion auswerten.

Das simulierte Jugendamt

Vor dem Übungsteil hatten wir als Veranstalter einen großen Respekt: Wir haben das BeraLab zum ersten Mal in sechs parallelen Gesprächen im Einsatz gehabt und der „Freiversuch im Feld“ mit Fachkräften aus der Praxis stellt die ganze Sache noch einmal mehr als im überschaubaren Lehr-Lern-Setting des Hochschulalltages auf den Prüfstand.

Es hat aber super geklappt – wir sind bereits erneut gebucht worden, auch für Inhouse-Schulungen. Unsere Simulationscrew hat das genial gemacht und die anonymisierten Fälle aus der Jugendhilfe gekonnt so dargestellt, dass das Modell damit erarbeitet werden konnte. Und: Auch die Fachkräfte haben sich auf die Simulation eingelassen, das war klasse und schön zu sehen, dass der Homo Ludens auch bei erfahrenen Praktiker*innen ab und zu durchscheinen kann und darf.

In der Sache also ein großer Erfolg und für mich berufsbiographisch (ähnlich wie das Careleaver-Projekt) die Möglichkeit, das Thema der Hilfen zur Erziehung wieder intensiver zu bearbeiten. Und unbedingt erwähnen will ich auch noch, dass das, was ich aus Tübingen als BeraLab mitgebracht habe und das nun zunehmend als der heutigen Zeit angemessenes Lern- und Bildungsformat in unterschiedliche Kontexte Einzug hält, als gemeinsames Projekt von Maja Heiner und mir begonnen hat. In Tübingen wird es an der Arbeitsstelle für Beratungsforschung mit Petra Bauer, Anke Züricher und Eva-Maria Lohner fortgesetzt. Maja hätte der gestrige Fachtag sicherlich gut gefallen, gerade in ihrer eigenen transdisziplinäre Identität als Professorin für Sozialpädagogik, ehemaligen Leiterin eines großen Sozialamtes und Lehrerin, die sich immer auch dafür interessiert hat, wie Fachkräfte für die komplexen Arbeitsplätze in der Sozialen Arbeit gut (aus)gebildet werden können.

Wir haben das Ding gerockt: Markus (Mitte), Marlene (rechts, schmeißt das BeraLab)

Lehren, Lernen und Forschen mit Simulation – das macht einfach Spass, wenn dabei Theorievermittlung, Übung und Reflexion verbunden wird. Markus, Marlene, die Simcrew und ich waren jedenfalls im Flow 😉 und unseren Teilnehmer*innen hat es auch gut gefallen. Der bereits lange geplante Schritt, das BeraLab auch auf organisationale Kontexte auszuweiten (im Sinne eines voll immersiven Planspieles), zeichnet sich mit unseren gemachten Erfahrungen jedenfalls auch schon ab. Was wir genau am BeraLab erweitert haben und was noch drin steckt – gibt´s in einem zukünftigen Blogbeitrag. Wer dazu was wissen mag, kann sich aber jetzt schon bei Marlene oder mir melden.

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