Wie trifft man richtige Entscheidungen, wenn man selbst nicht mehr weiter weiß?
Echtes Expert*innenwissen, definiert als hochgradig erfahrungsgebundene Könnerschaft in einem bestimmten Bereich, wird derzeit ganz schön herausgefordert. Ein aktuelles Beispiel sind die unsäglichen Diskussionen mit und von sogenannten Impfgegner*innen. Aber auch wenn es um Lern- und Bildungsangebote, Geldanlagen, Sozialforschung, Organisationsentwicklung, Autoreparaturen oder eine medizinische Behandlung geht, sind ideologisch und faktenfrei argumentierende Prophet*innen mindestens genauso laut zu hören wie die Stimmen von Menschen, die sich wirklich auskennen.
Angenommen, man will in einer solchen komplexen Sache einen Rat haben und eine Entscheidung treffen (ich gehe hier wirklich von einem Rat im Sinne einer Information und nicht von einem gemeinsamen, beraterisch-reflexiven Überlegen aus) – wie macht man das? Zunächst sollte man sich darüber klarwerden, ob es sich bei der Entscheidung um eine unsichere oder lediglich riskante Entscheidung handelt. Entscheidungen unter Risiko sind in der Entscheidungstheorie so definiert, dass alle Optionen und Konsequenzen sowie die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens bekannt sind. Man muss also in diesem Fall lediglich die verschiedenen Teilrisiken durchdenken und kann so zu einer Entscheidung kommen (die sogenannte Rational Choice-Theorie behandelt genau dieses Vorgehen).
Verzwickter liegt der Fall, wenn es eine Entscheidung unter Unsicherheit ist, was bedeutet, dass nicht alle Optionen, Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten bekannt sind. Viele lebensweltliche Probleme mit Ernstcharakter sind in modernen Gesellschaften so gestrickt – weshalb Expert*innen eine wichtige Sozialfigur in eben solchen Gesellschaften sind (Klassiker: Der gut informierte Bürger von Alfred Schütz, viel zitiert, kaum wirklich gelesen – private Kopie hier erhältlich auf Nachfrage 🙂 ).
Wie profitiert man nun in einer solchen Entscheidungssituation von Expert*innen, vorausgesetzt, man hat eine/n vor sich (darauf kommen wir auch noch zurück)?
Im ersten Fall ist es einfach – man führt mit den Expert*innen ein in der Regel überschaubares Gespräch, priorisiert die dort zutage getretenen Dinge und entscheidet sich dann für eine Option. Und im zweiten Fall? Tut man das GERADE NICHT. Denn dann läuft man in eine typische Falle: In der Regel entspinnt sich dann nämlich ein Gespräch, in dem Expert*innen (das sind ja auch nur Menschen) sozialen und anderen Konventionen zuliebe so tun, als ließe sich eine Entscheidung unter Unsicherheit mit den Mitteln von Entscheidungen unter Risiko bearbeiten. Das wird in der Regel wenig Expert*innenwissen generieren, sondern viele Artefakte erzeugen.
Und was macht man dann? Ganz einfach: Man fragt Expert*innen, was SIE tun würden. Also, beim Essen im unbekannten Restaurant beim Stammgast oder Kellner “was würden sie heute essen?”, beim Kfz-Mechaniker “was würden sie, wenn es ihr Auto wäre und sie möchten noch ein Jahr fahren und gerade so durch den TÜV, erstmal reparieren?”, beim Arzt “wenn es ihre Mutter wäre, die mit 80 Jahre diese Diagnose hätte, was würden sie tun?”.
Das wird in Entscheidungen unter Unsicherheit in der Regel andere, ganz andere Antworten liefern als das, was man vielleicht erwartet – und wie gesagt sind viele Fragen eher Probleme unter Unsicherheit statt unter Risiko. Allerdings gibt es eine klitzekleine Sache dabei zu beachten: In der Regel sind solche Expert*innenurteile zwar unersetzlich wertvolle Informationen, aber: Sie sind nicht rationalisierbar, zumindest nicht vollständig. Das passt nicht in eine vermeintlich aufgeklärte und rationale Welt, in der alle alles ohne Aufwand wissen können. Die Rationalität in einem solchen Einsatz von Expert*innen ist aber vollständig gegeben, vor allem auch entlang von Befunden, die man aus der Forschung zu Expertise weiß. Sie liegt aber an einer anderen Stelle als gedacht: Im Vertrauen und im Wissen, dass echte Expertise in Entscheidungen unter Unsicherheit eben nicht vollständig mitteilbar, aber trotzdem gültig ist. Expert*innen handeln dann nämlich nach ihren intuitiv erlebten Heuristiken eines hochgradig verkörperlichten, sprachlich nicht ausdrückbaren Wissens – neben der rational erscheinenden Systematisierung und Weitergabe von Informationen möglicherweise die viel wichtigere Funktion von Personen, die sich lange und intensiv mit einer Sache beschäftigt haben.
Ist man bereit, das zu akzeptieren, kann man also diesem Entscheidungsbaum folgen:
Bleibt eine wichtige Frage – wenn man sich in Entscheidungen unter Unsicherheit auf die Intuition von Expert*innen verlassen soll, die nicht (vollständig) sprachlich mitteilbar ist – woher weiß man dann, dass man eine/n Expert*in vor sich hat?
Ganz einfach. Man fragt: “Wie lange machst du das schon?” und bei Bedarf “mit welchem Erfolg?”. Echte Expert*innen freuen sich über diese Frage und geben leicht nachvollziehbare (und oft auch überprüfbare) Antworten. Postfaktische Verkünder*innen hingegen melden sinngemäß “ich impfe/lehre/forsche/organisationsentwickle/repariere/behandle nicht, aber ich kenne mich aus.”
Dann gilt nur noch eines.
Literaturtipps zum Nachlesen: Gerd Gigerenzer (2013): Risiko, Georg Hans-Neuweg (2016): Das Schweigen der Könner, und hier auf dem Blog einiges zu Intuition, Expertise, Könnerschaft, implizitem Wissen.