Die zweite Berner Beratungstagung ist um, die von Esther Abplanalp und Michael Zwilling ausgerichtet wurde und aufgrund der Pandemie perfekt digital organisiert war. Die Tagung stellte dabei einen der seltenen und nicht planbaren Kristallisationspunkte dar, an denen sich neue, noch vage Theorieverbünde in einer plötzlich konkret aufscheinenden Form zeigen. Es war verblüffend und offensichtlich, dass das Lehren, Lernen und Forschen mit Simulation für die Beratung in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat und nach einer langen Beschäftigung mit der Beschreibung von Beratungskompetenzen und Beratungswirkfaktoren die Professionalisierungsprozesse angehender Fachkräfte (neu) in den Fokus rücken. Dabei kommen vermehrt elaborierte Simulationsmodelle in den Blick, die weit über die allseits bekannten Ad-hoc-Rollenspiele in Lerngruppen hinausgehen. Zwei Simulationsarten waren dabei besonders prominent: die Arbeit mit Schauspieler:innen und der aufkommende Trend, mit 3D-Avataren und VR-Umgebungen zu lehren. Für mich ist diese Entwicklung eine große Freude, denn sie verbindet meine beiden Themen Beratung und Digitalität/Digitalisierung miteinander. Dabei hat sich verändert, dass Avatare und VR-Umgebungen kein Hype mehr sind, der als soziale Innovation in das besonders stark mit einer analogen Präsenzkultur aufgeladene Beratungslernen eingeführt werden müsste. Vielmehr sind Hardware (schnelle Rechner, große Displays, 3D-Brillen und Tracker) sowie die zugehörige Software Standard geworden, zumindest in der akademischen Welt, die stark vom ludologischen Nutzen der digitalen Unterhaltungsspielkultur profitiert. Ein günstiges 3D-Labor mit Off-the-shelf-Komponenten aus dem nächsten Elektronikmarkt – das ist seit einiger Zeit Alltag. Was als große Herausforderung bleibt, ist die Entwicklung und Programmierung didaktisch kluger Lernumgebungen.
Die anfänglichen Einschätzungen waren dabei stark polarisiert: Kritisch wurde entweder vermutet, dass in solchen Lernumgebungen mehr gespielt als gearbeitet wird, sie insgesamt sogar schädlich oder ethisch fragwürdig sein könnten (Childs et al. 2012), während eine euphorisch beschriebene Entwicklung darin gesehen wurde, dass Avatare einen Vorteil in der Darstellung besonders herausfordernder Beratungssituationen haben und im Anschluss wertvolles Feedback für die Lerner:innen generieren könnten (Hodges 2014).
Empirische Studien zeigen dabei ein vermittelndes Bild, nämlich dass basale Beratungsfertigkeiten in avatargestützten Lernumgebungen aus Sicht der Studierenden genauso gut oder besser als im Rollenspiel mit menschlichen Akteur:innen gelernt werden können (für die Beratung bei Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten Lowell und Alshammari 2019, für Grundlagen der Gesprächsführung und diagnostische Basisfertigkeiten Atuel und Kintzle 2021; Uwamahoro 2015; Walker 2009) bzw. sich die Selbsteinschätzung nach einem solchen Training verbessert und dabei insgesamt Vorbehalte gegenüber der neuen Technik abgebaut werden (Bachmann et al. 2019).
Aktuell lassen sich bereits jetzt zahlreiche Implementierungen finden, die über das erste Innovationsstadium deutlich hinausgehen, beispielsweise in der Ausbildung für die zivile psychosoziale Beratung und die betriebliche Sozialberatung der Air Force (Ingle 2019; Arenas et al. 2020) sowie in der Schulung von Supervisor:innen für angehende Lehrkräfte (Krach und Hanline 2018), wobei in diesen Anwendungen häufig eine Kombination aus virtuellen Avataren und menschlicher Steuerung (Mixed Reality Simulation) zum Einsatz kommt.
Bezogen auf die Zukunft kommen aktuelle Arbeiten zu dem Schluss, dass sich die Nutzung von Avataren und VR im Beratungslernen weiter verstärken und fortsetzen wird (Coker et al. 2021). Hierbei müssen neben praktischen Fragen angesichts ständig fortschreitender Technik besonders ethische Probleme reflektiert werden (Jencius und Marder 2020).
Für das Beratungslernen mit Simulation ist diese digitale Erweiterung ein großer Vorteil. Gemessen an den Forderungen einer am Expertiseaufbau orientierten Professionalisierungsforschung könnten dann Noviz:innen mit Avataren basale, erfahrungsorientierte Lernprozesse durchlaufen, die in den darauffolgenden Stufen der fortgeschrittenen Anfänger:innenschaft und der beginnenden Kompetenz durch elaborierte Simulationen mit Schauspieler:innen ergänzt werden. Nimmt man eine domänenspezifische Spezialisierung im Studium ernst, würde sich diese Art des Lernens gegen Ende des Studiums dann mit der Mitarbeit in einer Beratungsambulanz mit realen Fällen fortsetzen.
Wenn es also gelänge, diese erfahrungsorientierten Zugänge der Simulation dauerhaft mit Professionalisierungsfragen – also wie Beratung gelernt werden kann – zu verbinden, könnte die akademische Beratungsprofessionalisierung deutlich profitieren. Denn im Gegensatz zu den späten, meist nur punktuellen und schwach kontrollierten Praxiseinmündungen, die in Studiengängen der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit üblich sind, wären Theorie, Praxis und die sie verbindende Reflexion in den besonders vulnerablen frühen Lernphasen in einer Hand.
Der gerade entstehende Sammelband (der Call ist noch geöffnet) zu Forschen, Lehren und Lernen mit Simulation wird sicherlich zahlreiche Impulse zu dieser Debatte liefern.
Literatur:
Arenas, F. J., Clayton, A. S. & Simmons, K. D. (2020). Make It Real: Presence and Immersion in Simulation Design. In A. Stricker, C. Calongne, B. Truman & F. J. Arenas (Hrsg.), Recent advances in applying identity and society awareness to virtual learning (S. 126–137). Hershey: IGI Global.
Atuel, H. R. & Kintzle, S. (2021). Comparing the training effectiveness of virtual reality and role play among future mental health providers. Psychological trauma: theory, research, practice and policy 16 (6), 657–664.
Bachmann, M., Abplanalp, E. & Born, J. (2019). Erfahrungen mit Virtual Reality in der Ausbildung von Sozialarbeitenden. BFH impuls (1), 10–12.
Childs, M., Schnieders, H. L. & Williams, G. (2012). “This above all: to thine own self be true”. Ethical considerations and risks in conducting Higher Education learning activities in the virtual world Second Life. Interactive Learning Environments 20 (3), 253–269.
Coker, K., Snow, W. & Hinkle, S. (2021). The Past, Present and Future of Online Counselor Education. Journal of Technology in Counselor Education and Supervision 1 (1), 39–41.
Hodges, S. (2014). Counseling’s virtual future. Counseling Today 56 (11), 18–20.
Ingle, J. (2019). 82nd TRW faculty development tests avatar-based counseling platform, 82nd Training Wing Public Affairs. https://www.learningprofessionals.af.mil/News/Article/1959890/82nd-trw-faculty-development-tests-avatar-based-counseling-platform/.
Jencius, M. & Marder, S. R. (2020). Counseling training, practice, and supervision using avatars. In D. G. Williamson (Hrsg.), Distance Counseling and Supervision. A Guide for Mental Health Clinicians (S. 127–159). Newark: American Counseling Association.
Krach, S. K. & Hanline, M. F. (2018). Teaching Consultation Skills Using Interdepartmental Collaboration and Supervision with a Mixed-Reality Simulator. Journal of Educational and Psychological Consultation 28 (2), 190–218.
Lowell, V. L. & Alshammari, A. (2019). Experiential learning experiences in an online 3D virtual environment for mental health interviewing and diagnosis role-playing: a comparison of perceived learning across learning activities. Educational Technology Research and Development 67 (4), 825–854.
Uwamahoro, O. (2015). The Effect of Virtual Simulation on the Development of Basic Counseling Skills, Self-Reported Immersion Experience, Self-The Effect of Virtual Simulation on the Development of Basic Counseling Skills, Self-Reported Immersion Experience, Self-Reported Counselor Self-Efficacy, and Self-Reported Anxiety of Counselors-in-Training. Florida: STARS
Walker, V. L. (2009). Using 3D virtual environments in counselor education for mental health interviewing and diagnosis: student perceived learning benefits. Ann Arbor: UMI/ProQuest.