Seit Corona wird viel über Digitalisierung in der Sozialen Arbeit geredet. Vor einiger Zeit habe ich dazu geschrieben, dass zu dieser kriseninduzierten Rede ein Stück Geschichtsvergessenheit gehört, denn wirklich neu ist die Sache ja nicht. Andererseits haben wir trotz dieser Historie immer noch keinen gesicherten, systematischen Theoriestandpunkt dazu, wie die Sache eigentlich anzugehen ist. Entsprechend liegt der aktuelle Forschungsstand in Form verinselter Desiderate vor und umfasst schwerpunktmäßig Konzepte, die aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive Digitalisierung als Metaprozess (Krotz et al. 2017) beschreiben (z.B. als Governance mit und durch digitale Dinge, Veränderungen der Lebenswelt durch hybride Existenzweisen), auf die Modellierung von Spezifika in der digitalen Erbringung sozialer Dienstleistungen abstellen (z.B. Formen der digitalen Beratung oder des Einbezuges algorithmischer Unterstützung in Diagnose- und Interventionsprozesse) oder Herausforderungen und Transformationen in und durch Organisationen Sozialer Arbeit (z.B. ent-örtlichte und ent-zeitlichte Logiken des Arbeitens, digitale Beteiligungs- und Kollaborationsformen) in den Blick nehmen.
All diese spannenden Fragen lassen sich für Soziale Arbeit vielleicht besser bündeln und analysieren, wenn wir uns neben der Entfaltung der Forschung in der Breite mehr um Theorieperspektiven und konsistente Forschungsheuristiken bemühen. Gemeinsam mit Kolleg:innen aus Trier und Hildesheim1Gunther Grasshoff, Andreas Schröer, Inga Truschkat, Katharina Albrecht und Maja Michel denken wir seit Längerem an dieser Frage herum. Zentral ist dabei für uns, dass es eigentlich zwei Prozesse sind, die wir für die Soziale Arbeit anschauen müssen: Es gibt Prozesse der Digitalisierung, und damit ist fast immer gemeint, dass digitale Dinge im Sinne von Innovation eingeführt werden – die digitale Fallakte, digitale Dokumentationssysteme, Onlineberatungsportale etc. Übersehen wird hingegen oft, dass es daneben auch bereits eine seit Langem bestehende und sich ständig fortschreibende Kultur gelebter Digitalität gibt, in und mit der Adressat:innen und Fachkräfte schon längst digitale Dinge nutzen. Dies geschieht oft unterhalb des Radars bewusster Wahrnehmung und bisweilen auch in Form widerständiger Praxen, wenn beispielsweise eine digitale Anwendung nicht zulässig ist, aber schlicht Sinn ergibt.
Beide Prozesse – sowohl das top-down gesteuerte Einführen digitaler Dinge im Sinne von Digitalisierung als auch die Grasswurzelkultur gelebter Digitalität prägen Fallarbeit und Organisation(en) Sozialer Arbeit. Dies weitergedacht, führt zu unserer derzeitigen Denkfigur, die wir entlang praxistheoretischer Grundannahmen als Doing Digitality bezeichnen. Beschrieben werden können damit all diejenigen Praxen des Helfens, die in einem Spannungsfeld aus Digitalisierung und Digitalität einerseits und den organisations- und fallarbeitsbezogenen Aspekten Sozialer Arbeit andererseits hervorgebracht werden, und zwar durch Fachkräfte, Adressat:innen und digitale Dinge selbst. Unter digitalen Dingen verstehen wir dabei im weiten Horizont des neuen Materialismus Hardware (z.B. Smartphone, Tablet, PC und Notebook, Smarte Geräte oder Ambient Assisted Living-Systeme), Software (z.B. Smartphoneapps, Algorithmen) und ihre je spezifischen oder offen gehaltenen Verbindungen (z.B. als Smartphone des Typus iPhone oder Android, als „Gaming-PC“, Bildbearbeitungs- oder CAD-Arbeitsplatz) die zusammen mit menschlichen Akteur:innen Sozialer Arbeit soziotechnische Assemblagen bilden. Wir sind gespannt, wohin uns diese Heuristik, die auch die beiden erziehungswissenschaftlichen Perspektiven der Organisations- und Sozialpädagogik vereint, noch führt. Auf jeden Fall regt sie uns schon jetzt kräftig zu Forschung an, und demnächst erscheinen auch einige Zeitschriftenbeiträge zum Thema Doing Digitality.