Hoch immersive Videoberatung und Dokumentenbearbeitung auf Distanz. Praxistheoretische Perspektive auf hybride Beratungssettings. Ein Gastbeitrag von Anne-Kathrin Schmitz, Universität Trier

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FaceTime, Zoom, Skype und Co. wurden während der Pandemie zum ständigen Begleiter. Auch in der Beratungspraxis, in der präpandemisch das Hauptaugenmerk der digitalen Beratung noch auf schriftbasierten Formen lag, wurde die Videoberatung plötzlich zum Erfolgsmodell. Heute ist diese kaum mehr wegzudenken (z. B. Weinhardt, 2023 ; Weinhardt et al., 2022; Weinhardt, 2022). Eine weiterhin bestehende Hürde in der Videoberatung ist die gemeinsame, natürlich anmutende Dokumentenbearbeitung auf Distanz. Sie ist oftmals im sozialpädagogischen Beratungsalltag (bspw. in der Schuldnerberatung) notwendig und stellt dort gerade nicht nur ein Element der Arbeitserleichterung dar. Vielmehr ist der Umgang mit Dokumenten eine spezifische, niederschwellige Praxis des Beratungshandelns, die sich an der ikonischen Situation des mit unsortierten Belegen gefüllten Schuhkartons in der Schuldnerberatung illustrieren lässt, dessen Inhalt gemeinsam gesichtet wird.

Auf diese Forschungs- und Entwicklungslücke zielt das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt STellaR  (ein Kooperationsprojekt der Hochschule Bielefeld und der Universität Trier, vgl. hierzu Laak et al., 2021; Schmitz et al., 2022; Eller et al., 2023). Das Ziel von STellaR ist es, ein System zu entwerfen, zu entwickeln und zu implementieren, in dem Dokumente von Berater:innen und Adressat:innen im Rahmen einer hoch immersiven Videoberatung in natürlicher Anmutung gemeinsam bearbeitet werden können.

Erste Testaufbauten dieses Systems werden derzeit an der Universität Trier in Teilstudien erprobt, in denen sowohl im Sinne quasi-experimentellen Vorgehens unterschiedliche technische Optionen systematisch variiert werden als auch mit explorativem Fokus Besonderheiten in der Nutzung des Systems untersucht werden. Konstituierendes Element des ersten Testaufbaus ist eine Echtzeit-Dokumentenkamera, die Dokumente zusätzlich zum Kamerabild der Berater:innen und Adressat:innen zeigt. In den Studien führen Studierende simulierte Beratungsgespräche, in denen die gemeinsame Dokumentenbearbeitung thematisch wird.

Der vorliegende Blogbeitrag berichtet einige erste, kursorische Befunde aus diesen Studien, die als Vorbereitung auf einen leider ausgefallenen Workshop am Fachforum Onlineberatung 2023 gedacht waren. Hierbei stehen unter der erwähnten explorativen Perspektive hauptsächlich durch das Dokumentenbearbeitungssystem induzierte Störungen, Unterbrechungen und Handlungskrisen im Beratungsablauf im Fokus. Aus einer praxistheoretischen Perspektive ist dies nach Alkemeyer (2019) vor allem deshalb spannend, weil so nicht nur gelingende, sondern auch misslingende und/oder widerständige Praktiken in den Blick kommen. Diese werden im per se innovationsgetriebenen Digitalisierungsduktus oft nicht thematisiert, stellen jedoch unter einer teilhabeorientierten Adressat:innenperspektive einen wichtigen Ausschnitt in der Beschäftigung mit sozialpädagogischer Digitalität dar.

Der erste Testaufbau des hoch immersiven Videoberatungssystems, der gleichzeitig eine Echtzeit Dokumentenbearbeitung ermöglichen soll, umfasste neben dem bereits etablierten STellaR Setup (hochauflösender 65-Zoll-Bildschirm und ein hochwertiges Audiosystem aufseiten der Adressat:innen, qualitativ hochwertige Mikrofone und Kameras auf beiden Seiten – ausführlicher in Laak et al. 2021) eine Dokumentenkamera, die Dokumente in hoher Auflösung digitalisiert, sobald diese auf eine vorgesehene Fläche gelegt werden. Dieses Bild wurde in das Videobild integriert, um eine gemeinsame Kommunikation über und Bearbeitung des Dokuments während des Beratungsgesprächs zu ermöglichen, da auch Annotationen auf dem Papierdokument in Echtzeit übertragen werden konnten.

Während die Dokumente in den Vorerprobungen gut lesbar waren, verschlechterte sich die Qualität in den eigentlichen Erprobungen, sobald die Videokonferenz gestartet wurde und die Internetverbindung nicht gleichbleibend stabil blieb. Ein weiterer Abfall der Qualität war zu verzeichnen, wenn die Videokonferenz aufgezeichnet wurde. Letzteres ist notwendig, da eine Analyse der Videos einen Teil der Evaluation darstellt. Viele Dokumente (insbesondere solche mit kleiner Schriftgröße) waren daher während der Beratungsgespräche nicht lesbar. Entsprechend berichteten die Studierenden in der begleitenden Evaluation (Fragebögen und Interviews) von großen Schwierigkeiten. Statt gemeinsam über das Dokument zu kommunizieren, gingen viele Studierende dazu über, die Dokumente vorzulesen. Einige versuchten die Lesbarkeit zu verbessern, indem sie das Dokument näher an die Dokumentenkamera hielten oder versuchten, etwas an den Einstellungen der Dokumentenkamera zu verändern. Das Vorhaben, auf diese Art und Weise einen natürlich wirkenden Umgang mit Dokumenten zu ermöglichen, schien zunächst gescheitert. Letztlich gelang es jedoch allen Berater:innen-Adressat:innen-Tandems – trotz der vermeintlichen Handlungskrisen – die mitgebrachten Dokumente zu bearbeiten. Dabei griffen sie auf Praktiken zurück, die ihnen aus ihrem Alltag bereits bekannt waren. Dies lässt sich mit der Doing Digitality Heuristik von Marc Weinhardt erklären (Weinhardt, 2021a, 2021b) und ist im Anschluss daran ein Zeichen gelebter Digitalität.

Die sich daraus entstehenden widerständigen Praktiken genauer anzuschauen, ist wiederum unter einer subjektivierungstheoretischen Erweiterung der Praxistheorien, wie sie Alkemeyer et al. (2015) vorschlagen, spannend. Die Studierenden sind während ihrer Beratungsübungen auf Unsicherheiten und unvorhersehbare Geschehnisse gestoßen. Sie haben sich mit spezifischen Erwartungen in das Beratungsgespräch begeben (gemeinsam im Rahmen einer Beratungssimulation über ein Dokument zu sprechen und dieses zu bearbeiten) und sich auf etwas vorbereitet, was letztendlich nicht so umgesetzt werden konnte. Dies führte bei den Studierenden zu einer Handlungskrise, die sie situativ bewältigen mussten – eben durch widerständige Praktiken wie das Vorlesen oder das in die Kamera halten der Dokumente. Durch den Fokus auf die entstehenden widerständigen Praktiken, werden erst die jeweiligen Anforderungen, Ressourcen sowie Handlungsräume und -kompetenzen sichtbar, die sonst womöglich verborgen geblieben wären (Alkemeyer et al., 2015). Im Falle dieser ersten Erprobung konnte so z. B. etwas über die Selbsteinschätzung der Studierenden bzgl. ihrer Technikkompetenz erfahren werden. Dies wäre nicht der Fall gewesen, hätte man sich ausschließlich auf die Erprobung als großes Ganzes fokussiert. Hierdurch erklärt sich praxistheoretisch auch die zunächst aufgetretene Vermutung, die Erprobung wäre gescheitert. Mit einem Blick ausschließlich auf das große Ganze wird davon ausgegangen, die Studierenden seien eine Verkörperung oder fester Bestandteil der Erprobung. In diesem Falle würde sich ihr Handeln auf routinierte Abläufe beschränken. Betrachtet man jedoch die Teilnehmer:innenperspektive wird klar, dass keine Routinen, sondern „kreative Anpassungsleistungen“ (Alkemeyer et al., 2015, S. 30) von den Studierenden gefragt waren. An dieser Stelle erscheint dann das Plädoyer in Anlehnung an Alkemeyer (2019) passend, auch die Momente „methodisch aufzusammeln und theoretisch informiert zur Sprache zu bringen“ (Alkemeyer, 2029, S. 308), die nicht für ein Gelingen stehen, sondern zunächst ein Scheitern vermuten lassen

Im Sommersemester 2023 fand bereits eine weitere Erprobung mit Studierenden unter Berücksichtigung der Ergebnisse des ersten Durchgangs statt. Diesmal wurde das aufgenommene Bild der Dokumentenkamera nicht in das Videobild eingefügt, sondern konnte von den Berater:innen auf einem Tablet betrachtet werden. Auf diesem konnte das Dokument sowohl gedreht als auch verkleinert und vergrößert werden. Weiterhin konnte das Tablet wie ein Papierdokument in der Hand gehalten werden. Auch wenn die Auswertung der zweiten Erprobung momentan noch am Laufen ist, lässt sich bereits festhalten, dass diese Art der geteilten Dokumentenbearbeitung auf Distanz sehr vielversprechend wirkt. Dies wiederum spricht dafür, Scheitern nicht zu tabuisieren, sondern es ganz im Gegenteil dazu als gewinnbringend zu betrachten. In diesem Falle konnte das ‚Scheitern‘ der ersten Erprobung als „starke Kontrastfolie“ (Rieger-Ladich, 2014, S. 292), zur Entwicklung der neuen Lösung genutzt werden. Denn Scheitern ist „ein omnipräsentes Phänomen“ (Junge & Lechner, 2004, S. 8), das sowohl im Alltag, als auch in der Forschung dazu gehört und hier Beachtung finden sollte. Veröffentlichungen zu den beiden Erprobungen sind bereits in Planung.

Literatur

Eller, D., Laak, M., Becking, D., Schmitz, A.‑K., Seelmeyer, U., Waag, P. & Weinhardt, M. (2023). Exchanging Files Securely in a Stationary Telepresence Consultation System Using Jitsi Meet. In C. Stephandis, M. Antona, S. Ntoa & G. Salvendy (Hrsg.), HCI International 2023 Posters: 25th International Conference on Human-Computer Interaction, HCII 2023, Copenhagen, Denmark, July 23–28, 2023, Proceedings, Part III (S. 60–67). Springer Cham.

Junge, M. & Lechner, G. (2004). Scheitern als Erfahrung und Konzept. Zur Einführung. In M. Junge & G. Lechner (Hrsg.), Scheitern: Aspekte eines sozialen Phänomens (S. 7–13). VS Verlag.

Laak, M., Schmitz, A.‑K., Becking, D., Seelmeyer, U., Waag, P. & Weinhardt, M. (2021). STellaR – A Stationary Telepresence Counselling System for Collaborative Work on Paper Documents. In C. Stephandis, M. Antona & S. Ntoa (Hrsg.), HCI International 2021 – Late Breaking Posters: HCII 2021. Communications in Computer and Information Science (S. 383–389). Springer.

Rieger-Ladich, M. (2014). Auffälliges Vermeidungsverhalten: Scheitern als Gegenstand des pädagogischen Diskurses. In R. John & A. Langhof (Hrsg.), Scheitern – Ein Desiderat der Moderne? (S. 279–299). Springer VS.

Schmitz, A.‑K., Weinhardt, M., Becking, D., Laak, M., Waag, P. & Seelmeyer, U. (2022). Digitalisierung und Digitalität in der Schuldnerberatung: Was wir aus dem Projekt STellaR lernen können. BAG-SB Informationen – Sonderausgabe 2022, 37, 174–179.

Weinhardt, M. (2021a). Doing Digitality: Digitale Dinge in Handlungspraktiken Sozialer Arbeit: Sozialpädagogische Professionalität und Professionalisierung. https://marcweinhardt.de/doing-digitality-digitale-dinge-in-handlungspraktiken-sozialer-arbeit/

Weinhardt, M. (2021b). Sozialpädagogische Digitalität und Doing Digitality: Zu den digitalen Sachen selbst: Sozialpädagogische Professionalität und Professionalisierung. https://marcweinhardt.de/sozialpaedagogische-digitalitaet-und-doing-digitality-zu-den-digitalen-sachen-selbst/

Weinhardt, M. (2022). Offene Fragen an die Hilfeform Beratung im Spannungsfeld zwischen Digitalität und Digitalisierung, 8(1/2022), 1–15. https://www.ethikjournal.de/fileadmin/user_upload/ethikjournal/Texte_Ausgabe_2022_1/Weinhardt_Ethikjournal_1.2022.pdf

Weinhardt, M., Bauer, P., Lohner, E.‑M., Schmitz, A.‑K., Christiani, L. & Eder-Curreli, C. (2022). Beratungslernen im Studium: rgebnisse einer Pilotstudie zur Umsetzung eines videogestützten Beratungslabors im Horizont pandemiebedingter Digitalität. e-beratungsjournal.net, 18(2), 38–55. https://www.e-beratungsjournal.net/wp-content/uploads/2022/12/weinhardt_et_al.pdf

 

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