Packendes Drama, unglückliches Lehrstück. Ein paar Gedanken zum Film Systemsprenger

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Löst Fragen aus: die Inszenierung sozialpädagogischen Handelns im Film Systemsprenger. Bild: pixabay/ mohamed_hassan, eigene Collage

Jetzt habe ich ihn auch angesehen, den Film, der sozialpädagogische Fachkräfte bewegt und Menschen mit anderen Berufen dazu bringt, über Soziale Arbeit nachzudenken. „Systemsprenger“ ist in allen Tageszeitungen besprochen und es gibt Interviews mit der Macherin und dem beratenden Wissenschaftler (Begleitmaterial und Featurette hier). All diesen schon geäußerten Gedanken will ich nichts mehr hinzufügen, sondern eher eine andere Frage stellen, die sich mir als Sozialpädagoge aufdrängt: Auf welchen Inszenierungsimpuls ist der Film denn eigentlich eine Antwort? Ich komme auf (mindestens) zwei Ideen, die mich zu zwei unterschiedlichen Arten führen, die Verfilmung von Bennis Geschichte zu reflektieren.

Die Geschichte von Benni als Drama einer unglücklichen Kindheit in der pädagogisch durchinstitutionalisierten Moderne

Man kann den Film mit der neunjährigen Benni als Drama über eine zutiefst unglückliche Kindheit anschauen. So gesehen werden die Zuschauer*innen in einen packenden Plot hineingezogen, in dem deutlich wird, was ein Kind erlebt, wenn die existenzielle Angst einsetzt, nirgends dazu gehören zu können und Versuche, gehört und gesehen zu werden, nicht in bleibende Zuwendung münden – weder in der eigenen Familie, in die sie sich sehnlichst zurück- und hineinwünscht, noch in den unterschiedlichen Einrichtungen und Maßnahmen, die sie aufgrund ihres herausfordernden Verhaltens durchläuft. Das eindrückliche dabei ist, dass gerade die für Kinder wie Benni hergerichteten Institutionen versagen: Einsamkeit, Trauer und Wut des Mädchens werden in den Einrichtungen Sozialer Arbeit immer größer, weil jeder kleine Schritt in Richtung einer gelingenderen, auf Geborgenheit zielenden Lebenspraxis nicht auf Dauer gestellt werden kann und sie im Anschluss umso tiefer fällt. Diese Prozesse sind überwältigend verfilmt – man sitzt mit Benni in einem Schrank, in dem sie vom Partner der Mutter eingesperrt wird, wird in psychedelisch inszenierte Farb- und Toncollagen hineingezogen, wenn ihre Zornanfälle sie überkommen oder die Psychopharmaka ihre Sinne vernebeln. Dies alles ist mit einer sich deutlich durchziehenden Farb- und Tonsprache gedreht, die an vielen Stellen schon fast zu viel des Guten ist. Wenig erfährt man aber über Bennis Leben außerhalb der institutionalisierten pädagogischen Arrangements. Für institutionalisierte Kindheiten nicht untypisch entsteht dabei paradoxerweise die Situation, dass diejenigen Filmteile, in denen Benni gezeigt wird, wie sie selbstständig ihren Alltag besorgt, in einer „Auszeit“ in Form einer eins-zu-eins betreuten Intensivmaßnahme in einer abgelegenen Hütte spielen. Interessant wäre hier gewesen, noch mehr aus Bennis Sicht zu beschreiben, wie sie außerhalb der von Erwachsenen betreuten und hergerichteten Zeiten und Räume ihr Leben meistert. Trotz dieser Einschränkung bleibt aus der Perspektive des Dramas über eine von der Norm abweichende Kindheit vieles, was Zuschauer*innen zum Nachdenken über die Frage von Kindsein im System der Fremderziehung anregen kann – vor allem deshalb, weil durch die sparsam gehaltenen Informationen zu Bennis Vergangenheit der Blick für die aktuellen Probleme ihres Daseins und die darin liegenden Widersprüche erhalten bleibt.

Ein sozialpädagogisches Lehrstück über besonders schwierige Fälle

Eine andere Lesart ergibt sich, wenn man den Film als sozialpädagogisches Lehrstück ansieht. Diese Sichtweise ist aktiv intendiert: Es gibt begleitende Lehrmaterialien und besondere Konditionen für das Zeigen des Filmes in (Aus)bildungsinstitutionen. An der Brauchbarkeit als Lehrfilm habe ich jedoch ernsthafte Zweifel. Ich halte es für fragwürdig, ob ein solches Format hierfür realistisch genug sein kann und welche Erwartungen dann über den Nachvollzug sozialpädagogischen Handelns gesetzt werden. Schließlich werden Tatort, Grey’s Anatomy oder Apollo 13 auch nicht mit Begleitmaterialien und der Idee ausgestattet, man könne mit ihnen etwas über die berufliche Praxis von Kriminalpolizist*innen, Ärzt*innen oder Raumschiffpilot*innen lernen.

Warum ist dies aber bei einem Kinofilm über Sozialpädagogik scheinbar der Fall?

Die Verführung dürfte sicherlich die Idee sein, dass Soziale Arbeit lediglich darauf abzielt, eine schwierige Lebenspraxis durch berufliches Handeln in einer verstärkten und abgesicherten Form zu ersetzen. Zuschauer erfahren im Film nichts von methodisch geplantem Handeln, Supervision, anamnestischen und diagnostischen Prozessen und dem Ringen um die Fallkonstitution im durchaus realistisch zusammen gesetzten multiprofessionellen Team, das Bennis Lebensgeschichte berät und sie unterstützen soll. Damit bleibt gerade die Seite der Sozialpädagogik, die professionelles pädagogisches Handeln von Alltagsroutinen des Helfens und Erziehens unterscheidet, im wesentlichen unsichtbar. Stattdessen werden die beruflichen Helfer*innen in alltagsnah inszenierten Krisen gezeigt: Die Frau vom Jugendamt bricht weinend zusammen und muss schließlich von Benni selbst getröstet werden, der sozialpädagogisch klug handelnde Schulbegleiter wird gerade dann, wenn seine Professionalität in eine Krise gerät und er Bennis Fall abgeben will, nicht im reflexiven Modus fachlichen Handelns gezeigt, sondern im Duktus alltagssprachlich vorgebrachter Überforderungsfloskeln inszeniert. So muss das eigentliche sozialpädagogische Problem, über das sich nachzudenken lohnt, mühsam aus einem in diesen Punkten zu alltagsnah und flach inszenierten Film herausdestilliert werden: Wie nämlich damit umzugehen ist, dass Lebensgeschichten wie die von Benni dauerhafte, belastbare sozialpädagogische Arrangements benötigen, die in einer zunehmend ausdifferenzierten und nach genau beschriebenen (Teil)leistungen strukturierten Jugendhilfelandschaft zunehmend schwerer darstellbar sind. Es fehlen in der Jugendhilfe keine Fachkräfte, die motiviert sind, sich Lebensgeschichten wie der von Benni mit Interesse und Belastbarkeit zuzuwenden – der Schulbegleiter in Bennis Fall ist dafür durchaus prototypisch. Solange aber institutionelle Vorgaben so sind, wie sie sind – unattraktive Bezahlung und oft schlecht ausgestattete Arbeitsstellen mit hoher Personalfluktuation, staatliche Anerkennung nach einem kurzen BA, wenig leistungsambitionierte Studienprogramme – wird sich daran nichts ändern.

Der Schlüssel zu Bennis Fall ist ja gerade, dass in ihrer Einzelfallmaßnahme sichtbar wird, dass methodisch gestützte Beziehungsarbeit und das Anbieten funktionaler Äquivalente ihr helfen – es aber keine dauerhafte institutionelle Absicherung dafür gibt. Kinder wie Benni zeigen so die Unvereinbarkeit problembelasteter kindlicher Lebenspraxis mit einem Teil der herrschenden Arbeitsarrangements in der Sozialen Arbeit. Diese fachlich vertiefte Ebene erreicht der Film für Laien nicht, für gut ausgebildete Sozialpädagog*innen ist das Nachdenken über Schlüsselprobleme inklusiver Gestaltung von Hilfesystemen aber eine Binsenweisheit und birgt im übrigen alleine an dieser Frage mehr theoretischen Sprengstoff, als eine einsemestrige Vorlesung darstellen könnte.

Es bleibt bei mir also eine hohe Unsicherheit bezüglich der Idee, dass der Film ein Lehrstück über sozialpädagogisches Handeln in institutionellen Grenzerfahrungen sein kann, der fachlich fundiert den Sinn und Unsinn des Konzeptes Systemsprenger hinterfragt. Verborgen bleibt außerdem, dass täglich Kinder und Jugendliche in den Systemen der Jugendhilfe akzeptable, vielleicht an vielen Stellen sogar glückliche Momente und Situationen erleben – obwohl die Umstände vielerorts nicht optimal sind. Sozialpädagogisches Handeln nimmt oft seinen Ausgang in Krisen der Lebensführung ihrer Adressat*innen. Erfolgreiches Handeln bedeutet dann, dass sich eine neue, nämlich durch die sozialpädagogische Hilfe koproduzierte, Lebenspraxis mit zugehörigen Bewältigungsroutinen etabliert. Dies entspricht viel mehr dem realistischen, aber unaufgeregten Alltag von Sozialpädagogik als Beruf, der durch Bilder erfolgloser Daueralarmierung möglicherweise im Ansehen verzerrt wird oder gar Schaden leidet. Das wäre bedauerlich – es ist nämlich einer der schönsten Berufe der Welt.

Den Lerneffekt sehe ich deshalb aus sozialpädagogischer Perspektive vor allem darin, dass sich beobachten lässt was passiert, wenn das System der Unterhaltungsmedien sozialpädagogische Fragen recodiert. Vielleicht ist gerade das die Hauptlektion von Systemsprenger und wir sollten abwarten, was nun geschieht. Schließlich glaubt ja heute auch niemand mehr daran, dass Polizei, Medizin und andere Berufsgruppen realistisch im Film dargestellt werden, sondern es wurde längst gelernt: Achtung, nun kommt Unterhaltung.

Die eigentliche Parabel steckt also nicht im Film, sondern der sich entfaltenden Rezeptionsgeschichte.

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3 Gedanken zu „Packendes Drama, unglückliches Lehrstück. Ein paar Gedanken zum Film Systemsprenger“

  1. Lieber Herr Weinhardt,

    vielen Dank für den Artikel zum Film. Um ehrlich zu sein, habe ich den Film noch nicht gesehen; hier hat bereits der stark emotionalisierende Trailer, der entgegen vieler Rezensionen, doch sehr mit Klischees spielt, sehr abgeschreckt und angedeutet, dass eine ernsthafte Diskussion mit dem Kern des Themas auch in diesem Film ausbleibt.

    Nach dem Studium und einer Lehrtätigkeit arbeite ich nun seit mehreren Jahren im intensivpädagogischen Kontext und “diese” Fälle sind mir sehr vertraut. Vor diesem Hintergrund finde ich es erschreckend, dass der Film auch von den Instituionen selbst so sehr gelobt wird. Denn die Realität ist tatsächlich genau die, die Sie schildern. Das Professionelle wäre eine Struktur zu schaffen, die die guten Absichten der Beziehungsarbeit stützt; in 90% der konkreten pädagogischen Arbeit ist es angebracht bei ALLEN Beteiligten Beziehungsarbeit zu definieren und deutlich zu machen, dass Struktur, Regelkataloge und Haltungen alleine nicht die Beziehung ausmachen, die Kinder und Heranwachsende in solchen Institutionen bedürfen, um eine “gute” Arbeit zu leisten. Ein Konzept zu haben ist gut; es flankiert und gibt Orientierung aber auch das ersetzt nicht die Feinheit des Zwischenmenschlichen, die über die bloße gute Absicht hinausgeht. Klare Regeln und Transparenz auch schön, nur sind diese allein keine gute Pädagogik. Es entscheidet sich zwischen zwei Menschen und das fehlt so sehr…

    Ich erlebe überforderte KollegInnen, die sich selbst entfremdet sind und nach Schema XY handeln, weil es in der Fortbildung so gesagt wurde. Ohne jegliche Einsicht und Verständnis für das, was man eigentlich macht. Ein pädagogisches Handeln, das zutiefst entmenschlicht ist, da ein Konzept vor den direkten Kontakt gestellt wird. Authentisch ist kaum jemand und die wenigen, die es sind, schaffen es nicht im System. Das System ist der Menschlichkeit gegenüber höchst feindlich. Fehler machen nur die Kinder und Heranwachsenden, die PädagogInnen sind nicht in der Lage das eigene Ego in den Hintergrund zu schieben und wissen auf alles Rat, den sie selbst niemals pflegen, Authentizität! Die Anpassung ist einseitig von Rigidität durchzogen und über den Rand können nur die wenigsten. Die Professionalität wird zwar in Konzepten gepriesen und in der konkreten Arbeit ist es nur emotional; die Diskussion, die Struktur und die Arbeit: Verteidigungshaltung! Anstatt sich den Fragen zu möglichen Veränderungen zu stellen, wird emotional über das Thema gesprochen. Nicht nur im Film – so wie angedeutet – , sondern auch in der Praxis. Und deshalb kann ich mir den Erfolg des Films bei den PädagoInnen erklären: Er trifft genau das was ist, die nötige professionelle Distanz fehlt. Alle sind emotionalisiert und können nur das…

    Das macht mich tatsächlich sehr wütend, da Kinder aufgegeben werden, weil ein System nicht in der Lage ist, die eigene Arbeit zu reflektieren. Und das obwohl es 1000e Supervisionen gibt, Fallgespräche und Arbeitskreise… Nichts! Manchmal entsteht bei mir das Gefühl, dass das Jugendhilfesystem in der Praxis nur selten über eine allgemeine Pädagogik – eine, die ich auch in den eigenen vier Wänden pflege – hinauskommt.

    (nur in Kürze, emotional und sporadisch, die Zeit fehlt…)

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  2. Habe diesen Film auch gesehen, trotz eines leichten inneren Protestes weil doch ganz offensichtlich im Trailer schon alle Klischees bedient werden.
    Ich kann mir das große Feiern nicht erklären, es macht mich ratlos und traurig. Da wo eine echte Beziehung hätte helfen können, wird ein Scheitern gezeigt, wie es auch immer wieder vorkommt, ohne Lösungsansätze zu zeigen.
    Auch als Protagonistin ein junges Mädchen zu wählen finde ich merkwürdig, wer hat denn schon Angst vor den Wutausbrüchen eines Kindes. Das Ganze bei einem 15 jährigen Jungen, das wäre doch etwas anderes.
    Ich habe nichts mit Pädagogik studiert, vielleicht kann ich das deshalb nicht verstehen. Ich habe mich in Jugend und Erziehungsforen informiert und war entsetzt über das Ausmaß an Gleichgültigkeit. Es findet eine Stigmatisierung der Klienten statt, niemand macht sich die Mühe genau hinzu schauen.
    Ich selbst habe in der Erwachsen stationären Behindertenhilfe nun genau so einen Klienten, der sich traumatisert durch seine Kindheit geschleppt hat, als stark verhaltensauffällig und fremd aggressiv stigmatisiert etliche Psychiatrieaufenthalte durchlaufen hat. Nur ein echtes Beziehungsangebot hat gefehlt.
    Dann höre ich von professioneller Distanz. Was bitte soll das sein? Das was ein Mensch am meisten braucht wird ihm vorenthalten! Da gibt es eben Kämpfer, die dieses System sprengen und das ist gut so!

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  3. Da meine Lebensgefährtin diesen Film gerne ansehen wollte, habe ich ihn mitgeschaut, dies trotz meines Unwohlseins angesichts von Ausschnitten, die ich schon vorher gesehen hatte. Ich kann dem Film nicht absprechen, sehr ernste pädagogische Probleme und das Leid von Kindern ins Blickfeld gerückt zu haben. Aber ich habe ein großes Problem damit, dass hier ein Kind als Schauspielerin tatsächlich benutzt wurde. Unabhängig vom allgemeinen Problem der Kinderarbeit bei Filmen, geht es hier darum, dass ein recht junges Kind in Extremsituationen geführt wird, die ganz ohne Frage Spuren in seiner Seele hinterlassen müssen. Ist dies zu rechtfertigen, auch, wenn die Probleme, die im Film dargestellt werden, auch auf ganz anderem Wege eindringlich zu thematisieren sind? Ist hier nicht eine wichtige Grenze überschritten worden? Ist hier doch das Wohl eines sehr jungen Mädchens hinter die Ambitionen einer Regisseurin zurück gestellt worden?
    Ich schreibe diese Zeilen nicht hur als Soziologe, sondern auch als Vater und Großvater. Darüber hinaus gehöre ich zu den Menschen, die eine sehr intensive und bildhafte Erinnerung bis zum Alter von zweieinhalb Jahren haben, einschließlich der Erinnerung an meine Gefühlszustände. Ich weiß daher, wie auch selbst äußerlich undramatische Situationen intensiv nachwirken. Ich komme zu dem Schluss, dass es sich verbietet, Kinder in dieser Weise einzusetzen! Was mich auch erschrickt ist, dass in der medialen Diskussion zu diesem Film diese Frage kaum angesprochen wird. Ich halte es für dringend nötig, diese grundsätzliche Frage zum Filmgeschäft zu thematisieren
    mit vorzüglicher Hochachtung
    Andreas Schlüter
    Diplom-Soziologe, 76 Jahre
    Berlin

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