Sozialpädagogische Digitalität: Warum wir auf gute Beratung aufpassen müssen

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Die Pandemie geht weiter, und damit die Intensivierung von Praxen, die angesichts der Coronakrise Angebote Sozialer Arbeit mit und durch digitale Medien zugänglich machen. Dabei kommt aus meiner Sicht einiges zu kurz und geht auch kunterbunt durcheinander. Dieser Blogbeitrag hat deshalb eine gewollt kritische Perspektive auf das, was gerade mit der Digitalität von Bildung und Bewältigung geschieht. Besonders betroffen ist dabei die Hilfeform Beratung, an der man exemplarisch Vieles zeigen kann, über das sich sozialpädagogisch nachzudenken lohnt.

Vereinseitigung von Reflexionsperspektiven: Zur ständigen Innovation gehört eine nicht gesehene Geschichte

Wir sprechen überwiegend von Digitalisierung, und nicht von Digitalität. Damit wird eine beständige Innovationsrhetorik aufrechterhalten, nach der die Soziale Arbeit metaphorisch als müder Esel der digitalen Karotte hinterherläuft und immer zu spät dran ist. Besonders deutlich wird das in der aktuellen Krise: Nun wird, intrinsisch und extrinsisch mit dem Begriff der Systemrelevanz motiviert, auf die Tube gedrückt. Neben der bedauerlichen Selbstinszenierung einer prinzipiellen Technikferne Sozialer Arbeit wird so das Bild permanenter Innovationsnotwendigkeit zur Darstellung gebracht. Neben der Frage, wie dieses Bild differenzierter gezeichnet werden kann (z. B. Gibt es wirklich zu wenig Angebote, oder muss manches nur anders/intensiver dargeboten werden?) wird aktuell gar nicht gesehen, dass das Bild des nachzuholenden Fortschrittes eine Rückseite hat: Nämliche eine längst zur Geschichte gewordene Entwicklung von Onlineberatung, die lange vor Corona begann und aus der man vieles lernen kann und vielleicht lernen muss. Zeitgeschichtlich sprechen wir hier von einer 25 Jahre umfassenden Entwicklung, in der Adressat:innen und Fachkräfte in Deutschland digitale Beratung gemacht haben. Kann man angesichts dieser Zahl denn noch von grundlegender Innovationsnotwendigkeit sprechen? Oder müssten wir in der Sozialen Arbeit nicht kritischer darüber nachdenken, wie die dritte Seite des Bildes – nämlich die schmale Seitenansicht, die Innovation und Tradition als aktuelle Praxis verbindet, beschaffen ist und warum sie Innovation fordert, anstatt bei sich selbst nachzulesen?

 25 Jahre sind nicht zufällig ungefähr eine Wissenschaftler:innengeneration, und es wundert deshalb nicht, dass sich in dieser Vergessenheit der Internetnutzung Sozialer Arbeit einiges ganz konkret wiederholt. Prägnantes Beispiel: Mit den ersten Onlineberatungsversuchen per Mail, damals bei der Telefonseelsorge, wurde der Vorwurf laut, dies sei alles zu innovativ und nur die synchrone Interaktion per gesprochenem Wort sei der beraterischen Weisheit letzter und anthropologisch endgültiger Schluss. Man kann die Wiederholungsschleifen schon zählen, denn dasselbe Argument wurde bereits in Anschlag gebracht, als die telefonische Beratung entwickelt wurde. Damals galt: Es geht natürlich nichts über ein kopräsentes Gespräch.

Einige der Stimmen, die damals vehement für das neue, Text vermittelte Beratungsformat gestritten haben, treten  nun mit der gleichen Bestandswahrungsrhetorik an, um die Erweiterung klassisch gewordener, asynchroner Beratung um synchrone Videoformate als Deprofessionalisierung zu markieren: Beratung per Video, das sei ein Rückschritt hinter den noch nicht durchgesetzten Fortschritt schriftlicher Onlineberatung.

Silodenken in der Community: Aus zwei Welten wird ein Beratungsblasenplusiversum

Das alles lässt sich auch schon in der Struktur der Praxis und ihrer Community(s) beobachten: Einerseits bietet sich nun die Chance, die lange kolportierte Dichotomie aus kopräsent-verleiblichten und asynchron-vertextlichten Welten aufzulösen. Andererseits zerfasern die Diskurse dazu angesichts des empfundenen, kriseninduzierten Handlungsdruckes. So gibt es staunende Onlineberatungstraditionalist:innen der ersten Stunde, die verblüfft zur Kenntnis nehmen, dass die Kunstform verschriftlichter Beratung gar nicht mehr gelernt werden will und angesichts des Zeitdruckes auch gar nicht gelernt werden kann. Vieles, das es dazu zu sagen gäbe und seit mehr als einer Dekade in Lehrbüchern kanonisiert ist, bleibt ungenutzt. Die Mailberatung wird neu erfunden und beginnt gefühlt mit dem Stand zur Jahrtausendwende. Gleichzeitig gibt es die neuen Sprunginnovator:innen, denn Zoom und Teams, das ist wie das echte Leben, nur ein bisschen mehr 2D. So werden kreative Lösungen zur videografischen Umsetzung traditioneller Beratung ersonnen, Flipcharts gefilmt und Korbsessel ins rechte Licht gerückt – auch hier ohne Gedanken an das übergeordnete Thema Digitalität und die reiche Tradition digital-medialer Beratung zu verschwenden.

Und jetzt? Doing Digitality und reflexive, sozialpädagogische Digitalität

Welche Theorieposition bietet sich an, um diese Gesamtentwicklung, die Chancen und Risiken für digitalmedial erbrachte Beratung bietet, sehen und gestalten zu können? Wir müssten sozialpädagogisch denkend einmal vom bunten, durch die Krise besonders aufgewühlten Onlineberatungsfeld zurücktreten und all die Ungleichzeitigkeiten, Widersprüche und das reichhaltige Potenzial, das darin liegt, erkennen. Eine solche Sicht würde aber nicht den linearen Fortschrittsmotor in Gang setzten, sondern eine reflexive Beschäftigung mit digitaler Kultur, der Beschreibung von gelingenden Praktiken und deren Etablierung an bedürftigen Stellen bedeuten.

Es braucht jetzt gerade nicht immer neue Software, ein weiteres Beratungsportal oder eine fancy Beratungsapp mit einem Spezialdienst, sondern kreative Anwendung vorhandener Dienste und Geräte sowie die Rückbesinnung auf die inhaltliche Relevanz von Beratung in ihrer digitalen Darreichungsform und die zugehörige Professionalisierung. Und genau hier, in der Reflexion von Darreichungsformen, liegt derzeit auch das größte Defizit: Aktuell lernen beispielsweise ganze Kohorten angehender Berater:innen in vielfältigen, digitalmedialen Formaten Beratung. Da Beratung Inhalt und Form der Interaktion extrem verschränkt, müssen wir genau diese Verschränkungen dringend explizit zum Thema machen, wenn eine mediatisierungssensible Sozialpädagogik als Handlungswissenschaft auch ihre Vermittlungsfunktion zwischen Praxis und Theorie ernst nimmt.

    Lehrangebot
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Beratungsangebot

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Die Fragen dazu sind drängend: Reicht es aus, digitale Beratung digital zu vermitteln (1) und wie sehen die feinen, hier nicht berücksichtigten Differenzierungen zwischen synchronen und asynchronen Formaten aus? Was geschieht, wenn digitale Lehrangebote darauf zielen, auf Präsenzberatung vorzubereiten (3)? Wie können die jetzt rasch auf den Weg gebrachten Verfahren der Vermittlung und Erbringung von Beratung später wieder mit den traditionellen Wegen (2, 4) kombiniert werden?

In einer solchen systematischen Reflexion wäre sichtbar, dass, aber auch wie wir jetzt schon eine digitale Beratungskultur leben und mit welchen theoretischen (derzeit verinselten und oft impliziten) Vorannahmen wir das tun. Das rückt beispielsweise die derzeit wieder vorherrschenden Diskussionen um Datenschutz und Fragen des neu technisch machbaren nicht völlig in den Hintergrund, eröffnet aber eine neue und, wie ich finde, erfrischende Perspektive auf das, was jetzt schon passiert.

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Vielleicht kommt es aber auch ganz anders: Möglicherweise ist die Transformation der Beratungskultur aufgrund der Krise so schnell und umfassend, dass Digitalität als Konzept einer vermeintlich vergegenständlichten Gestaltungsnotwendigkeit verschwindet. Die Dichotomie zwischen digital und kopräsent ist dann obsolet, das daraus entstandene digitalmediale Korrelat wird zur Erweiterung von Laut und Schrift – eine selbstverständliche, dauernd fortgeschriebene Kulturleistung, an die man sich nicht ständig erinnert und auch nicht erinnern muss. Man macht dann Zoom an, wenn man nicht zur Beratungsstelle gehen will, aber auch nicht mailen, telefonieren oder messengern mag. Und ein digitaler Hausbesuch, ein digitales Hilfeplangespräch und eine digitale Erziehungsberatung würden eben dann stattfinden als eine mögliche Darreichungsform von vielen, und man würde wie sozialpädagogisch üblich mitreflektieren, was das alles für den jeweiligen Fall und die Situation bedeutet. All das könnte in einer lebensweltorientierten Kultur der Digitalität verwirklicht werden: Per eigenem Endgerät in der Privatheit der eigenen Wohnung, per Telepräsenzinfrastruktur im öffentlichen Raum oder als Gabe digitaler Zuwendung in Form eines mobilen Endgerätes für Menschen, die sonst nicht erreicht werden können.

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