Die meisten Hochschullehrenden in der Sozialpädagogik (und anderen Handlungswissenschaften mit unmittelbarem Berufsfeldbezug) kennen das Phänomen: Eine stattliche Anzahl von Studierenden geht bereits im Studium einer Teilzeitbeschäftigung in Einrichtungen der Sozialen Arbeit nach. Formal sind von Minijobs bis hin zu halben Stellen oder Verträgen als Werkstudent:in mit noch mehr Stundenumfang viele Möglichkeiten gegeben. Inhaltlich findet sich die ganze Bandbreite von pädagogischen Hilfstätigkeiten bis hin zur Übertragung von Aufgaben, die (eigentlich) eine voll qualifizierte Fachkraft erfordern.
In den letzten Jahren haben sich, vielleicht als später Nebeneffekt der Rede um ‚Employability‘ im Zuge der (oft falsch verstandenen) Bolognareform, Verschiebung in den Narrativen zu dieser Form der Berufstätigkeit ergeben. Diese neuen Narrative stellen im Grunde Denkfiguren der Deprofessionalisierung dar. Einige dieser problematischen Denkfiguren will ich schlaglichtartig kritisieren – und zwar aus der Perspektive sozialpädagogischer Professionalisierungsforschung.
Arbeiten ist nicht Üben
Häufig wird damit argumentiert, dass die Mitarbeit in Einrichtungen der Sozialen Arbeit ganz automatisch den Transfer und die Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens schult, also die nach dem Studium gebrauchten professionellen Routinen ausbilden kann. Aber aus Sicht des pädagogischen Phänomens des Übens (Brinkmann 2021) ist das Mitabsolvieren eines institutionellen Alltages ohne relevantes Vorwissen, das Fehlen von handlungsentlasteter Reflexion und dem spezifischen, fehlertoleranten bzw. sogar fehleraufsuchenden Modus der Deliberate Practice (Ericsson et al. 1993) kein produktiver Lernmodus. Die Vermeidung von Arbeitsleid und nicht das Üben dürfte in den chronisch überlasteten und unterbesetzten Einrichtungen Sozialer Arbeit schnell der Regelfall der studentischen Mitarbeit sein – in nicht wenigen Fällen überformt von den Rettungsphantasien hochaltruistisch motivierter studentischer Mitarbeiter:innen, die diese Prozesse noch gar nicht analysieren können (Thole und Küster-Schapfl 1997; Weinhardt 2014, 2015, 2018) und so übersehen, was akademische Professionalisierung in ihrer spezifischen Verknüpfung von Wissenserwerb, handlungsentlasteter Reflexion und Übung bedeutet.
Die Praxis ist nicht automatisch ein qualifiziertes Lernfeld
Die Wahrscheinlichkeit, dass studentische Mitarbeiter:innen auf einschlägig qualifizierte Kolleg:inen treffen, die als Rollenmodell akademischer Professionalisierung zur Verfügung stehen (und sich dann noch unentgeltlich Zeit nehmen müssten zur Anleitung von Aushilfen) ist zudem strukturell bedingt gering: In den Hilfen zur Erziehung (wohl dem Hauptarbeitsfeld studentischer Aushilfen) verfügen nur 38 % der Beschäftigten über eine akademische Qualifizierung, in den stationären Hilfen lediglich 30 %. Das Argument des bloßen Wiederholens von Arbeitsroutinen der Sozialen Arbeit gilt also auch in der strukturellen Reflexion studienbegleitender Teilzeitberufstätigkeit. Selbst die vereinzelt zu findenden Mentoringprogramme können zur Absicherung hier nichts beitragen, und das Problem der spezifisch sozialpädagogischen Professionalisierung verschärft sich bei tiefgehender Analyse noch weiter, denn unter den hier zitierten Befunden der repräsentativen Dortmunder Jugendhilfestatistik zur akademischen Qualifizierung (KOMDAT 2020) verbergen sich ganz unterschiedliche Disziplinen, die einen jeweils anderen professionellen Blick auf Soziale Arbeit haben (müssen) und hier neben der fehlenden Anleitung noch einen weiteren Beitrag zur disziplinären Verwirrung der Wissensbasen studienbiografisch junger Kolleg:innen leisten – wer Sozialpädagogik prägend früh und ohne gesichertes Vorwissen aus der Perspektive praktischer Psycholog:innen, Jurist:innen, Mediziner:innen, Soziolog:innen etc. in den angespannten Alltagsroutinen Sozialer Arbeit kennenlernt, wird sie nie wirklich verstehen.
Zu frühe Routine verhindert Denken und Innovation
Nimmt man ernst, dass das Narrativ des Dualen Studiums nach Do-It-Yourself-Manier verstärkt greift, so müssen neben personenbezogenen Lern(verhinderungs)prozessen auch institutionelle Verschiebungen des Umgangs mit sozialpädagogischem Wissen beobachtet werden. Es stellt sich dann nämlich die Frage, wie anspruchsvolles, reflexives und kritisches Denken in sozialpädagogische Praxiseinrichtungen noch hineingelangen kann, wenn eine große Gruppe der dafür vorgesehenen Träger:innen des Wissens, nämlich frisch studierte, handlungsentlastet und disziplinär durchgebildete Subjekte, hierfür gar nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie die Praxisroutinen als unhinterfragten sozialpädagogischen Regelfall einsozialisiert bekommen haben. Das sozialpädagogische Feld wird unter dieser Perspektive wieder einmal drohend fremdbestimmt von vermeintlichen Managementexpert:innen, die dann notwendige Impulse von außen und meist fachfremd gerahmt herbeischaffen müssen – das hatten wir alles schon einmal anlässlich der Invasionen der Wohlfahrts- und Sozialmanager:innen im NPM.
Und nun? – Eigentlich ist es einfach
Aus einer professionalisierungstheoretischen Warte, die erfahrungsorientiertes Lernen erziehungswissenschaftlich in den Blick nimmt, liegen inhaltliche und organisatorische Konsequenzen auf der Hand.
Die Praxis als wertvollen Erfahrungs- und Lernort ernst nehmen heißt, sie didaktisch reflexiv zu rahmen. Gut vor- und nachbereitete Praktika oder sinnvoll strukturierte duale Studiengänge, in denen praktische Tätigkeit und akademischer Wissenserwerb am Ort der Hochschule systematisch verbunden werden, sind die Mittel der Wahl. Für fortgeschrittene Lerner:innen ist der Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung ein weiterer Ort, um Praxis, Wissen und Reflexion in einen wissenschaftsgestützten Bezug zueinander zu bringen. Das praktische Üben ohne Erfolgsdruck auf der didaktischen Mikroebene lässt sich durch vermehrt in der Sozialpädagogik greifende Zugänge zu Lehren und Lernen mit Simulation sehr gut auch in traditionellen Studiengängen umsetzen.
Hochschul- und sozialpolitisch ist es geboten, einer hypertrophierenden Verwertungslogik von Wissen und Arbeitskraft Einhalt zu gebieten. Die Stärkung von BAföG und anderen Unterstützungsleistungen ist für diejenigen Studierenden besonders wichtig, die finanziell in die Teilzeitarbeit gedrängt werden, die Klärung von Professionalisierungsprozessen durch Hochschullehrende hingegen für solche, die die Tätigkeit für das Fach halten und darin nicht irritiert werden wollen. Durch den hohen Anteil von Sozialpädagogikstudierenden, die sich als erste in ihrer Familie akademisch qualifizieren, ist auch der spezifischen Verbindung von ökonomischer Unsicherheit und einem Primat der Praxis in Form des Zurecht-Kommen-Müssens und der unmittelbaren Verwertbarkeit von Wissen (Mafaalani 2021) wertschätzend, aber bestimmt zu begegnen: Die Hochschule muss dem Denken, und nicht der vorschnellen Praxis, die Türen öffnen – und das mehr denn je in einer Zeit, in der auf zukünftige Sozialpädagog:innen hochkomplexe Aufgaben warten, die mit Bestandsroutinen gar nicht bewältigt werden können.
Literatur:
Brinkmann, Malte (2021): Die Wiederkehr des Übens. Praxis und Theorie eines pädagogischen Grundphänomens. Stuttgart: Kohlhammer.
Ericsson, K. Anders; Krampe, Ralf Th.; Tesch-Römer, Clemens (1993): The Role of Deliberate Practice in the Acquisition of Expert Performance. In: Psychological Review 100 (3), S. 463.
KOMDAT (2020): Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe. 23 (1)
Mafaalani, Aladin el (2021): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft: mit einem Zusatzkapitel zur Coronakrise. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Thole, Werner; Küster-Schapfl, Ernst-Uwe (1997): Sozialpädagogische Profis. Beruflicher Habitus, Wissen und Können von PägagogInnen in der ausserschulischen Kinder- und Jugendarbeit. Opladen: Budrich.
Weinhardt, Marc (2014): Beraterische Basisqualifikation im Studium? Eine qualitative Längsschnittstudie zum Beratungskompetenzerwerb an der Hochschule. In: Kontext 45 (1), S. 85–101.
Weinhardt, Marc (2015). Beratungskompetenzerwerb. Pilotstudien aus der Arbeitsstelle für Beratungsforschung. Weinheim: Beltz.
Weinhardt, Marc (2018): Beratungskompetenzerwerb im Studium: Lern- und Bildungsprozesse im Horizont subjektorientierter Professionalisierung. In: Olaf Dörner, Carola Iller, Ingeborg Schüßler, Cornelia Maier-Gutheil und Christiane Schiersmann (Hg.): Beratung im Kontext des Lebenslangen Lernens. Konzepte, Organisation, Politik, Spannungsfelder. Leverkusen: Budrich, S. 143–156
Danke Marc, ein wichtiges Statement zur Unterstützung einer ernstzunehmenden Professionalisierung und qualitativ hochwertigen Praxisausbildung. Eine Ergänzung: Hans-Uwe Otto traf mal die ziemlich schneidende Aussage (damals allerdings bezogen auf das duale Studium), dass die sozialpädagogischen Praxisinstitutionen bessere Fachkräfte verdient hätten als die, die sie selbst “zugerichtet” (O-Ton H-U. O.) hätten. Das war ein böses Diktum, aber es bringt’s auf den Punkt, hier noch verschärft dadurch, dass in unbegleiteter Teilzeitarbeit gar keine Begleitung stattfindet und Studierende sich einzig in organisationale Bestandsroutinen einschleifen und in Frustrationstoleranz zu Arbeitsleid-Erfahrungen üben.
Lieber Wolfgang,
da hast du recht. Ich bin bisweilen auch skeptisch bei manchen dualen Studiengängen. Allerdings haben diese ja die tatsächlich vorhandene Chance, eine kontinuierliche Reflexion an der Hochschule zu bieten und einzufordern. Dass dies nicht immer erfolgen wird, steht auf einem anderen Blatt. Denkbar wäre in diese Richtung aber noch vieles mehr, z.B. ein Vollzeitstudium, in dem jede Studienwoche mit einem ganztägigen kasuistischen Kolloquium in kleinen Gruppen (gerne mit laufenden, “schwierigen” und unvorhersehbaren Fällen) beginnt. Dann könnte man Praxis studieren, anstatt dieser sich als günstige Arbeitskraft annähern zu müssen.
Sicher zu teuer, und niemand würde einen solchen Modellstudiengang in der Sozialen Arbeit finanzieren wollen, während in der Reform der PT-Ausbildung nun die 1:1-Betreuung der Studierenden in den Praxismodulen der Regelfall wird.